Sie lag nun fast zwei Kilometer über ihm.
Der schwache Lichtschimmer und die winzigen Schattengestalten davor wirkten erschrekkend weit entfernt. Zum erstenmal war er froh darüber, daß er diese gigantische Treppenkonstruktion nicht in ihrer gesamten Länge sehen konnte. Trotz seiner guten Nerven und seiner Fantasielosigkeit war er sich doch nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn er sich wie ein Insekt vorkommen müßte, das auf der Oberfläche eines vertikalen Tellers von über sechzehn Kilometern Höhe herumkroch — wobei die obere Tellerhälfte über ihn herüberhing. Bisher hatte er sich über die Dunkelheit geärgert; in diesem Augenblick jedoch begrüßte er sie fast.
„Keine Temperaturveränderung“, berichtete er Commander Norton. „Immer noch knapp unter Gefrierpunkt. Aber der Luftdruck ist gestiegen, wie wir erwartet haben: ungefähr dreihundert Millibar. Selbst bei diesem geringen Sauerstoffgehalt kann man fast darin atmen.
Weiter unten wird es überhaupt keine Schwierigkeiten machen. Das wird uns die Exploration enorm erleichtern. Was für eine Entdeckung: die erste Welt, auf der wir uns ohne Sauerstoffgeräte bewegen können! Übrigens, ich werde da jetzt mal reinschnuppern.“
Auf der Nabe machte Commander Norton eine leicht beunruhigte Bewegung. Aber wenn überhaupt einer seiner Männer, dann wußte Mercer ganz genau, was er tat. Er hatte bestimmt genügend Tests vorgenommen, um sicherzugehen.
Mercer nahm den Druckausgleich vor, legte den Sicherheitshebel an seinem Helm herum und öffnete diesen einen Spalt weit. Er atmete vorsichtig ein, dann nahm er einen tieferen Atemzug.
Die Luft in Rama wirkte tot und muffig, als käme sie aus einem so uralten Grab, daß die letzten Spuren des körperlichen Zerfalls bereits vor Äonen verschwunden waren. Selbst die überempfindliche Nase Mercers, die in jahrelanger Erprobung von Lebenserhaltungssystemen bis zum Katastrophenpunkt und darüber hinaus geeicht war, konnte keinerlei feststellbare Gerüche entdecken. Es gab einen schwachen metallischen Beigeschmack, und Mercer erinnerte sich plötzlich daran, daß die ersten Menschen auf dem Mond von einem Hauch von verbranntem Schießpulver gesprochen hatten, als sie das Mondmodul wieder unter Druck gesetzt hatten. Mercer stellte sich vor, daß die von Mondstaub geschwängerte Raumkapsel der Eagle in etwa so wie Rama gerochen haben müsse.
Er schloß seinen Helm wieder und entließ die fremde Luft aus seinen Lungen. Sie hatte ihm keine lebenswichtige Hilfe bringen können: selbst ein Bergsteiger, der dem Gipfel des Mount Everest akklimatisiert gewesen wäre, hätte hier sehr schnell sterben müssen. Doch ein paar Kilometer weiter unten würde die Sache völlig anders aussehen.
Was gab es hier sonst noch zu tun? Ihm fiel nichts ein. Er genoß einfach die leichte ungewohnte Schwerkraft. Aber es hatte keinen Sinn, sich an sie zu gewöhnen, denn sie würden gleich in die Gewichtslosigkeit an der Nabe zurückkehren.
„Wir kommen zurück, Skipper“, meldete er.
„Kein Grund, noch weiter abzusteigen — bevor wir ganz runtergehen können.“
„Einverstanden. Wir werden eure Zeit stoppen, aber macht langsam.“
Während er die Stufen hinaufhüpfte, wobei er drei oder vier mit einem Satz nahm, mußte Mercer Calvert recht geben: diese Treppe war gebaut worden, um hinauf-, nicht hinabzusteigen.
Solange man sich nicht umschaute und die schwindelerregende Steilheit der Krümmung ignorierte, war der Anstieg eine erfrischende Erfahrung. Nach etwa zweihundert Stufen begann er allerdings ein leichtes Zukken in seinen Wadenmuskeln zu verspüren und beschloß, langsamer weiterzumachen. Die anderen beiden taten es ihm nach. Als er einen raschen Blick über die Schulter zurückwarf, sah er, daß sie ein gutes Stück weiter unten am Hang waren.
Der Aufstieg verlief gänzlich ereignislos — es war nur eine scheinbar endlose Abfolge von Stufen. Als sie erneut auf der obersten Plattform standen, direkt unter der Leiter, waren sie kaum außer Atem, und sie hatten knapp zehn Minuten gebraucht. Sie machten noch einmal zehn Minuten Pause, dann nahmen sie den letzten senkrechten Kilometer des Aufstiegs in Angriff.
Springen, eine Sprosse packen — Springen- Packen-Springen-Packen… es war leicht, aber auch so anödend gleichförmig, daß die Gefahr bestand, leichtsinnig zu werden. Auf halbem Weg machten sie fünf Minuten Pause: inzwischen hatten außer den Beinen auch die Arme zu schmerzen begonnen. Wieder war Mercer froh darüber, daß sie so wenig von dieser senkrechten Oberfläche erkennen konnten, an der sie sich hocharbeiteten; so konnte man sich leicht einreden, daß die Leiter nur ein paar Meter über den erleuchteten Bereich hinausragte und bald zu Ende sein werde.
Springen-Packen, Festhalten an der Sprosse, Springen — und dann war die Leiter ganz plötzlich wirklich zu Ende. Die ganze Exkursion hatte etwas weniger als eine Stunde gedauert, und jetzt waren sie wieder zurück in jener gewichtslosen Welt an der Rama-Achse und inmitten ihrer besorgten Freunde. Sie verspürten durchaus einen gewissen Stolz.
Doch war es bei weitem noch zu früh für eine bequeme Selbstzufriedenheit. Trotz all ihrer Anstrengungen hatten sie erst weniger als ein Achtel des gesamten gigantischen Treppensystems hinter sich gebracht.
11. KAPITEL
MÄNNER, FRAUEN UND MENSCHENAFFEN
Schon vor langer Zeit war Commander Norton zu der Überzeugung gelangt, daß bestimmte Frauen nicht an Bord eines Raumschiffs geduldet werden dürften: die Schwerelosigkeit stellte mit ihren Brüsten Sachen an, die eine zu verteufelt starke Ablenkung bedeuteten. Es war schon schlimm genug, wenn sie sich nicht bewegten, aber wenn sie sich bewegten und die sympathischen Vibrationen begannen, dann war das mehr, als einem warmblütigen männlichen Wesen zuzumuten war. Für Norton stand außer Frage, daß zumindest ein schwerer Unfall im Raum durch akute Ablenkung der Besatzung verursacht worden war, nachdem ein wohlgepolsterter weiblicher Offizier durch die Kontrollkanzel gegangen war.
Er hatte diese These einmal gegenüber der Stabsärztin-Commander Laura Ernst vertreten, ohne hinzuzufügen, wer ihn zu diesen besonderen Gedankengängen angeregt hatte. Das erübrigte sich auch: sie kannten einander viel zu gut. Vor Jahren hatten sie einmal in einem Moment beiderseitiger Einsamkeit und Depression miteinander geschlafen. Wahrscheinlich würden sie diese Erfahrung nie wiederholen (doch konnte man in diesem Punkt je völlig sicher sein?), da sich für beide inzwischen sehr viel verändert hatte. Doch wann immer die wohlgeformte Doktorin sich in die Kabine des Commanders schlängelte, verspürte er einen flüchtigen Nachhall vergangener Leidenschaft, und da sie das ganz genau wußte, war jedermann zufrieden.
„Bill“, begann sie, „ich habe unsere Kletterer untersucht. Hier ist meine Beurteilung. Karl und John sind in guter Verfassung — alle Reaktionen normal, angesichts der Leistung, die sie hinter sich haben. Aber Will weist Anzeichen von Erschöpfung und Gewichtsstörung auf — ich gehe nicht ins Detail. Ich glaube, er hat nicht ausreichend trainiert, und er ist nicht der einzige, bei dem ich das vermute. In der Zentrifuge hat es Drückeberger gegeben; und wenn das so weitergeht, dann werden bald ein paar Köpfe rollen. Bitte veranlassen Sie das Nötige.“
„Jawohl, M’am. Aber es gibt eine Entschuldigung.
Die Männer haben äußerst hart gearbeitet.“
„Sicher, mit dem Gehirn und den Fingern.
Aber nicht mit dem Körper — sie haben keine echte Arbeitsleistung in Kilopond erbracht.
Und damit werden wir es zu tun bekommen, wenn wir Rama erforschen.“
„Gut, können wir das?“
„Ja, wenn wir behutsam vorgehen. Karl und ich haben zusammen eine sehr vorsichtige Prognose erarbeitet — die auf der Annahme basiert, daß wir unterhalb von Absatz Zwei keine Atemgeräte mehr benötigen werden. Das ist natürlich ein unglaublicher Glücksfall und verändert das ganze logistische Bild. Ich kann mich noch immer nicht ganz an die Vorstellung gewöhnen, daß wir es hier mit einer Welt mit Sauerstoff zu tun haben… Also brauchen wir bei der Versorgung nur an Nahrung, Wasser und Thermoanzüge zu denken und können losziehen. Der Abstieg wird einfach sein; es sieht so aus, als könnten wir auf diesem sehr praktischen Geländer fast bis ganz hinunter schlittern.“
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