Das hatte Mercer auch schon bemerkt. Wenn er die Sprossen losließ, trieb er deutlich nach rechts ab. Er wußte selbstverständlich ganz genau, daß dies nur eine Folge der Umdrehung Ramas war, doch es wirkte, als schubste ihn eine geheimnisvolle Kraft sanft von der Leiter fort.
Möglicherweise war nun der Zeitpunkt gekommen, mit den Füßen voran weiterzugehen, jetzt, da ›unten‹ allmählich wieder eine physische Bedeutung gewann. Er würde das Risiko einer kurzfristigen Desorientierung eingehen.
„Achtung — ich dreh mich jetzt rum.“
Er klammerte sich an der Sprosse fest und drehte sich mit Hilfe seiner Arme um hundertachzig Grad herum. Die Lampen seiner Gefährten blendeten ihn einen Moment. Weit über ihnen — und nun war das wirklich über ihnen — konnte er ein schwaches Glimmen längs des steilen Klippenkamms erkennen. Als Silhouetten hoben sich davor die Gestalten Commander Nortons und des Rettungstrupps ab, die ihm angespannt zusahen. Sie wirkten winzig und sehr weit entfernt. Er winkte ihnen zuversichtlich zu.
Er löste seinen Griff und ließ die noch immer schwache Pseudoschwerkraft Ramas wirken.
Der Fall von einer Sprosse zur nächsten dauerte über zwei Sekunden; auf der Erde würde ein Mensch in der gleichen Zeit dreißig Meter gefallen sein.
Die Fallgeschwindigkeit war so ärgerlich gering, daß er die Geschichte ein wenig beschleunigte, indem er mit den Händen nachschob und über ein Dutzend Sprossen auf einmal hinwegglitt. Er bremste sich jeweils mit den Füßen ab, wenn er das Gefühl bekam, zu schnell abwärts zu gleiten.
Bei Sprosse siebenhundert machte er erneut halt und richtete den Strahl seiner Helmlampe nach unten. Wie er vorausberechnet hatte, befand sich der Fuß der Leiter nur noch fünfzig Meter unter ihm.
Einige Minuten später waren sie bei der ersten Sprosse angelangt. Es war ein seltsames Gefühl, nach monatelangem Aufenthalt im Weltraum nun wieder aufrecht auf festem Grund zu stehen und den Boden gegen die Füße drücken zu fühlen. Ihr Gewicht betrug noch immer weniger als zehn Kilo, doch dies reichte aus, ihnen ein Gefühl der Stabilität zu vermitteln. Wenn Mercer die Augen schloß, konnte er glauben, daß unter ihm wieder einmal eine wirkliche Welt lag.
Der Sims oder die Plattform, von der aus die Treppe hinabführte, war etwa zehn Meter breit und auf beiden Seiten gekrümmt, bis sie schließlich im Dunkel verschwand. Mercer wußte, daß sie einen vollkommenen Kreis bildete und daß er, wenn er fünf Kilometer auf ihr entlanggehen würde, wieder genau an seinem Ausgangspunkt anlangen würde, nachdem er Rama umkreist hatte.
Angesichts der minimalen Schwerkraft an diesem Punkt war jedoch richtiges Gehen unmöglich; man konnte nur in riesigen Sätzen vorwärtskommen. Und dies barg Gefahren.
Die Treppe, die sich in die Finsternis weit jenseits der Reichweite ihrer Lampen hinabschwang, würde trügerisch leicht hinunterzugehen sein. Aber es war lebenswichtig, daß man sich an den hohen Geländern zu beiden Seiten festhielt; ein zu kühner Schritt konnte einen unvorsichtigen Benutzer in weitem Bogen in den Raum hinausbefördern. Er würde einige hundert Meter weiter unten auf festen Grund gelangen; der Aufprall würde zwar harmlos sein, aber seine Folgen vielleicht nicht: denn die Rotation Ramas müßte die Treppe nach links abgedreht haben. Und darum würde ein fallender Körper auf der sanften Krümmung auftreffen, die in einer ungebrochenen Kurve zu der fast sieben Kilometer weiter unten liegenden Ebene hinabführte.
Das würde eine verdammt heiße Schlittenfahrt sein, dachte Mercer; die Endgeschwindigkeit konnte selbst bei diesen Schwerkraftverhältnissen gut mehrere hundert Stundenkilometer betragen. Vielleicht war es ja möglich, durch genügend Reibung einen derartigen Absturz abzubremsen; wenn das möglich war, dann könnte dies sogar der bequemste Weg sein, die innere Oberfläche Ramas zu erreichen. Doch zunächst würde man zwangsläufig ein paar sehr vorsichtige Experimente anstellen müssen.
„Skipper“, meldete sich Mercer, „keine Probleme beim Abstieg auf der Leiter. Wenn Sie zustimmen, würde ich gern zur nächsten Plattform weitergehen. Ich möchte unsere Abstiegszeit auf der Treppe messen.“
Norton antwortete sofort.
„Machen Sie weiter.“ Aber es war nicht nötig, daß er hinzufügte: „Seid vorsichtig.“
Es dauerte nicht lange, da machte Mercer eine fundamentale Entdeckung. Es war unmöglich — zumindest bei dieser Schwerkraft von nur einem Zwanzigstel —, die Treppe auf normale Weise hinabzusteigen. Jeder diesbezügliche Versuch führte zu einer traumhaften slowmotion- Bewegung, die unerträglich ermüdend war; das einzige praktikable Verfahren bestand darin, die Stufen zu ignorieren und sich an den Handgeländern nach unten zu ziehen.
Calvert war zu dem gleichen Resultat gekommen.
„Diese Treppe ist gebaut, um nach oben, nicht nach unten zu kommen!“ rief er aus. „Man kann die Stufen benutzen, wenn man sich gegen die Schwerkraft bewegt, aber in unserer Richtung sind sie einfach eine Plage. Es sieht ja vielleicht nicht sehr würdevoll aus, aber ich glaube, das einfachste ist, auf dem Geländer runterzurutschen.“
„Das ist lächerlich“, protestierte Sergeant Myron.
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Ramaner es so gemacht haben.“
„Ich bezweifle, daß sie diese Treppen jemals benutzt haben. Es sind offensichtlich Notausstiege.
Sie müssen über irgendein mechanisches Transportmittel verfügt haben, hier heraufzukommen.
Vielleicht eine Seilbahn. Das wäre eine Erklärung für die langen Schlitze, die von der Nabe herunterführen.“
„Ich habe immer gedacht, es handelt sich um Abflußgräben. Aber sie könnten ja beides sein.
Ich möchte wissen, ob es hier je Regen gab?“
„Wahrscheinlich“, sagte Mercer. „Aber ich denke, Joe hat recht. Zum Teufel mit der Würde.
Auf geht’s.“
Das Handgeländer — angenommen, es war für so etwas wie Hände geformt worden — war eine glatte flache Metallschiene auf weit auseinanderliegenden meterhohen Pfeilern. Commander Mercer setzte sich rittlings darauf, überprüfte vorsichtig, wieviel Bremskraft er mit den Händen ausüben konnte, und begann hinabzurutschen.
Sehr gleichmäßig mit langsam wachsender Geschwindigkeit glitt er in das Dunkel hinunter, nur sein Helmscheinwerfer verbreitete einen Lichthof um ihn. Er war etwa fünfzig Meter vorangekommen, als er die beiden anderen aufforderte nachzukommen.
Keiner gab es zu, aber sie fühlten sich alle drei wieder wie Lausejungs, die ein Treppengeländer hinunterrutschen. In weniger als zwei Minuten waren sie sicher und bequem einen ganzen Kilometer tief ›hinuntergestiegen‹.
Wenn immer sie das Gefühl hatten, daß es zu schnell wurde, genügte ein fester Griff um das Geländer, und sie hatten genug Bremskraft.
„Ich hoffe, es hat euch Spaß gemacht“, rief Commander Norton, als sie die zweite Plattform betraten. „Die Kletterei zurück wird nicht ganz so leicht sein.“
„Das möchte ich gern überprüfen“, antwortete Mercer, der gerade probehalber auf- und abging, um die erhöhte Schwerkraft zu testen.
„Es ist hier bereits ein Zehntel G — man merkt wirklich den Unterschied.“
Er ging — oder, genauer, er glitt — an den Rand der Plattform und richtete seine Helmstrahler auf die nächstniedere Sektion der Treppe.
Soweit sein Lichtstrahl reichte, schien es sich um die genaue Wiederholung der bereits über ihnen liegenden Treppe zu handeln — obgleich die sorgfältige Auswertung der Fotos gezeigt hatte, daß die Stufenhöhe mit wachsender Schwerkraft stetig abnahm. Die Treppe war offenbar so konstruiert, daß die zu ihrer Benutzung nötige Anstrengung an jedem Punkt ihrer langen geschwungenen Kurve in etwa konstant blieb.
Mercer blinzelte zu der Nabe von Rama hinauf.
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