Zwei Motti auf seinem Schreibtisch demonstrierten die Quintessenz seiner Lebensphilosophie.
Eine Notiz besagte: WAS HAST DU VERGESSEN?
Die andere: TRAGE ZUR AUSROTTUNG DER TOLLKÜHNHEIT BEI! Die Tatsache, daß man ihn vielfach als den tapfersten Mann der ganzen Raumflotte betrachtete, war das einzige, was ihn je in Zorn versetzt hatte.
Mit der Entscheidung für Mercer stand automatisch auch der nächste Mann fest: sein von ihm unzertrennlicher Gefährte Leutnant Joe Calvert. Man konnte nicht leicht begreifen, was die beiden verband: der zierliche, ziemlich empfindliche und reizbare Navigationsoffizier war zehn Jahre jünger als sein schwerfälliger, durch nichts aus der Ruhe zu bringender Freund, der Joes leidenschaftliches Interesse an der Kunst des primitiven Films durchaus nicht teilte.
Aber keiner weiß, wo der Blitz einschlägt, und so hatten Mercer und Calvert vor Jahren eine allem Anschein nach dauerhafte Freundschaftsbindung aufgebaut. Dies war keineswegs außergewöhnlich; bei weitem ungewöhnlicher war jedoch, daß beide auch zu Hause auf der Erde eine gemeinsame Frau hatten, die jedem von ihnen ein Kind geboren hatte. Commander Norton hoffte, sie eines Tages kennenzulernen.
Sie mußte eine sehr bemerkenswerte Frau sein. Das Dreiecksverhältnis dauerte nun schon mindestens fünf Jahre und schien immer noch störungsfrei zu funktionieren.
Aber zwei Mann waren für einen Erkundungstrupp zuwenig; vor langer Zeit hatte man herausgefunden, daß drei Mann die optimale Besetzung waren — denn wenn einer verlorenging, dann konnten zwei Mann möglicherweise immer noch durchkommen, während ein einzelner Überlebender zum Tode verurteilt wäre. Nach sorgfältiger Überlegung wählte Norton den Technical Sergeant Willard Myron aus. Myron war ein mechanisches Genie. Er konnte alles zum Funktionieren bringen — oder auch etwas Besseres entwerfen, wenn das eine nicht funktionierte. Er war der ideale Mann, fremde Ausrüstungsgegenstände zu erkennen.
Myron war für einen langen Forschungsurlaub von seiner normalen Aufgabe als außerordentlicher Professor am Astrotechnikum freigestellt worden, aber er hatte sich geweigert, ein Offizierspatent anzunehmen, weil er nicht die Beförderung verdienstvoller Berufsoffiziere blokkieren wollte. Niemand nahm diese Erklärung sonderlich ernst; man war vielmehr allgemein der Ansicht, daß Will nicht den mindesten Ehrgeiz besitze. Er würde es bis zum Raumsergeanten bringen, aber er würde niemals ordentlicher Professor werden. Myron, wie zahllose Offiziere ohne Patent vor ihm, hatte den idealen Kompromiß zwischen Macht und Verantwortung gefunden.
Während sie durch die letzte Luftschleuse und längs der gewichtslosen Achse von Rama schwebten, fühlte Leutnant Calvert sich wie so oft mitten in einer filmischen Rückblende.
Er fragte sich zuweilen, ob er nicht versuchen sollte, sich das abzugewöhnen, aber andererseits sah er keine Nachteile an dieser Sache.
Damit konnte man sogar die langweiligsten Situationen interessant machen, und — wer konnte es wissen — vielleicht würde ihm diese Angewohnheit eines Tages das Leben retten.
Er würde sich erinnern, was Fairbanks oder Connery oder Hiroshi in ähnlicher Lage getan hatten… Diesmal war er dabei, in einem der Kriege im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Sturm aus dem Schützengraben zu springen; Mercer war der Feldwebel, der eine Patrouille von drei Mann auf einem Nachtangriff ins Niemandsland anführte. Es fiel ihm nicht allzu schwer, sich vorzustellen, daß sie auf dem Boden eines gigantischen Bombentrichters stünden, allerdings eines Trichters, der irgendwie säuberlich zu einer Reihe ansteigender Terrassen zurechtgestutzt worden war. Der Krater war vom Licht der drei weit auseinanderliegenden Plasmabögen erhellt, wodurch sich das ganze Innere nahezu schattenlos ausleuchten ließ. Doch dahinter — jenseits der fernsten Terrasse — lagen Dunkelheit und Geheimnis.
In seiner Fantasie wußte Calvert ganz genau, was dort lag. Zuerst kam die flache kreisförmige Ebene von über einem Kilometer Ausdehnung.
Dann, wie breite Schienenstränge, die drei breiten Leitern, die die Ebene in drei gleich große Teile schnitten. Ihre Sprossen lagen vertieft, so daß sie kein Hindernis bildeten für hinuntergleitende Gegenstände. Da die Anordnung vollkommen symmetrisch war, bestand kein Grund, eine der Leitern zu bevorzugen; man hatte die der Luftschleuse Alpha am nächsten liegende nur der Bequemlichkeit halber gewählt.
Die Leitersprossen lagen zwar unangenehm weit auseinander, aber ein Problem war es nicht. Selbst hier am Rand der Nabe, einen halben Kilometer von der Achse entfernt, betrug die Schwerkraft kaum ein Dreißigstel von der der Erde. Und obgleich sie beinahe hundert Kilogramm an Ausrüstung und lebenswichtigen Geräten mit sich trugen, würden sie sich trotzdem mühelos weiterhanteln können.
Commander Norton und der Hilfstrupp begleiteten sie längs der Seilführungen, die man von der Luftschleuse Alpha bis zum Kraterrand gespannt hatte. Dann lag jenseits der Reichweite der Flutlichtstrahler die Dunkelheit Ramas vor ihnen. Alles, was sie in den tanzenden Strahlen der Helmlampen sehen konnten, waren die ersten paar hundert Meter der Leiter, die über die flache und sonst gestaltlose Ebene hin immer winziger wurde.
Und jetzt, sagte Mercer zu sich, jetzt muß ich meine erste Entscheidung treffen. Steige ich die Leiter rauf oder runter?
Dies war durchaus ein schwerwiegendes Problem.
Sie befanden sich praktisch noch unter Null-Schwerkraft, und so konnte sich das Gehirn jedes beliebige Bezugssystem aussuchen.
Durch einfache Willensanspannung konnte Mercer sich zu der Überzeugung bringen, daß er auf eine horizontale Fläche oder eine vertikale Wand hinauf oder über den Kamm einer steilen Klippe blicke. Nicht wenige Astronauten machten ernste psychische Störungen durch, wenn sie vor einer schwierigen Aufgabe das falsche Koordinatensystem wählten.
Mercer war entschlossen, mit dem Kopf voran loszugehen, da jede andere Fortbewegungsweise umständlicher gewesen wäre; überdies konnte er so leichter sehen, was vor ihm lag.
Auf den ersten paar hundert Metern würde er sich also vorstellen, daß er nach oben klettere; erst wenn der zunehmende Sog der Schwerkraft diese Illusion zerstörte, würde er seine geistige Orientierung um hundertachzig Grad verschieben.
Er packte die erste Sprosse und zog sich sacht die Leiter entlang. Die Bewegung war so mühelos wie das Schwimmen im Meer — noch leichter sogar, weil es hier nicht den Rücksog des Wassers gab. Es war so leicht, daß man in Versuchung geraten konnte, zu schnell voranzugehen, doch Mercer hatte zuviel Erfahrung, als daß er in einer derartig neuen Situation etwas überstürzt hätte.
Die Sprossen lagen gleichmäßig einen halben Meter auseinander, und während der ersten Phase seiner Kletteraktion übersprang Mercer jede zweite. Doch er zählte sie sorgfältig, und als er bei zweihundert angelangt war, begann er deutlich sein Gewicht zu spüren. Die Rotation von Rama begann sich bemerkbar zu machen.
Bei Sprosse vierhundert schätzte er sein scheinbares Gewicht auf etwa fünf Kilo. Das war kein Problem, doch würde es jetzt ein bißchen schwieriger, sich einzureden, daß er aufwärts klettere, da er doch kräftig nach oben gezerrt wurde.
Sprosse fünfhundert erschien ihm als ein geeigneter Platz für eine Ruhepause. Er spürte, daß seine Armmuskeln auf die ungewohnte Anstrengung reagierten, auch wenn jetzt Rama die ganze Arbeit tat und er sich nur zu lenken brauchte.
„Alles okay, Skipper“, berichtete er. „Haben gerade die Hälfte hinter uns. Joe, Will? Irgendwelche Probleme?“
„Mir geht’s gut — warum hältst du an?“ antwortete Joe Calbert.
„Hier gleichfalls alles okay“, setzte Sergeant Myron hinzu. „Aber paßt auf die Corioliskraft auf. Sie wird bald stärker werden.“
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