„Pique Dame“, und dann standen wir beide am Teekessel und ließen kein Auge vom Wasser, um den Moment des Aufwallens nicht zu verpassen, wobei die üblichen Frotzeleien ausgetauscht wurden, und als ich die Tassen und Untertassen auf denTisch stellte, nahm ich den sakrosankten Schein vom Bestelldienst, den Zettel über Lido-tschka sowie den Ausweis der Sergejenko, I. F., knüllte alles zusammen und ließ es unbemerkt im Mülleimer verschwinden.
Wir tranken wunderschönen Tee — es war richtiger Tee, „Tee als Getränk“, sprachen über alles mögliche, nur nicht über das Wichtigste, und ich dachte die ganze Zeit, woran Irka wohl denken mochte, denn sie sah aus, als habe sie den ganzen Schreck schon vergessen, erleichtert vergessen, nachdem sie gesagt hatte, was sie davon hielt, und ich fühlte mich mit meiner Entscheidung wieder allein gelassen.
Nach dem Teetrinken sagte sie, sie wolle jetzt bügeln und ich solle mich zu ihr setzen und etwas Lustiges erzählen. Ich räumte das Geschirr weg, doch da klingelte es an der Tür. Unter leisem Geträller
„Nur die Berge sind schöner als Berge…“ begab ich mich in den Flur — nach einem kurzen Seitenblick auf Irka, die seelenruhig mit einem trockenen, sauberen Lappen den Tisch polierte. Erst als ich den Schlüssel umdrehte, fiel mir der Fleischklopfer ein, aber ihn zu holen wäre lächerlich und peinlich gewesen, also öffnete ich die Tür. Ein langer, blutjunger Bursche in nassem Regen cape und mit nassem Haar erklärte gleichmütig:
„Ein Telegramm. Ihre Unterschrift bitte…“ Ich nahm ihm den Bleistiftstummel aus der Hand, drückte die Quittung an die Wand, vermerkte nach seinen Angaben Datum und Uhrzeit, unterschrieb, reichte den Bleistift und die Quittung zurück, dankte und schloss die Tür. Ich wusste, etwas Gutes war nicht zu erwarten. Gleich im Flur, unter dem hellen 500-Watt-Leuchter, entfaltete ich das Telegramm und las es. Es kam von der Schwiegermutter.
ANKUNFT MIT BOBKA MORGEN ABHOLEN FLUG NR.425 BOBKA SCHWEIGT STÖRT HOMÖOPATHISCHES WELTGEBÄUDE KUSS MAMA.
Unten war ein Kontrollstreifen aufgeklebt. HOMÖOPATHISCHES WELTGEBÄUDE. Ich las das Telegramm einmal, zweimal, faltete es ganz langsam zusammen, knipste das Licht aus und ging den Korridor entlang. Irka erwartete mich bereits, mit dem Rücken an die Badezimmertür gelehnt. Ich reichte ihr das Telegramm, sagte:
„Mama und Bobka kommen morgen“ und ging schnurstraks an meinen Tisch. Dort lag noch immer Lidotschkas BH rum. Ich packte ihn fein säuberlich aufs Fensterbrett, raffte meine Blätter zusammen, ordnete sie und steckte sie in das große Heft, dann nahm ich eine schöne neue Schreibmappe, tat alles hinein, band die Strippen zu und malte im Stehen drauf:
„D. Maljanow. Zur Frage der Wechselwirkung der Sterne und der diffusen Materie in der Galaxis.“ Überflog es, dachte kurz nach und strich
„D. Maljanow“ fett durch. Dann klemmte ich die Mappe unter den Arm und zog los. Irka lehnte immer noch an der Badezimmertür, das Telegramm an die Brust gepresst. Als ich vorbeiging, machte sie eine vage Handbewegung — wie um mich aufzuhalten oder mir zu danken. Ohne sie anzublicken, sagte ich:
„Zu Wetscherowski. Bin gleich wieder da.“
Langsam stieg ich die Treppe hinauf, Stufe für Stufe, immer wieder die Mappe zurechtrückend, die mir unter dem Arm wegrutschen wollte. Im Treppenhaus brannte aus irgendeinem Grunde kein Licht, es war dämmrig und still, man hörte nur das Geplät-scher des Wassers, das vor den offenen Fenstern vom Dach rann. An der Nische im sechsten Stock, wo sich neulich das Pärchen geküsst hatte, blieb ich stehen und blickte in den Hof hinab. Das schwarze Laub des mächtigen Baumes schimmerte nass, der Hof war leer, der Regen kräuselte die blinkenden Pfützen.
Ich traf niemand auf der Treppe, lediglich zwischen dem siebten und achten Stock kauerte auf den Stufen ein kleiner Mann, jämmerlich anzusehen, einen grauen altmodischen Hut neben sich. Vorsichtig wich ich ihm aus und trottete weiter, doch plötzlich sagte er:
„Gehen Sie da nicht hin, Dmitri Alexejewitsch.“ — Ich blieb stehen und blickte den Kauernden an. Es war Gluchow.
„Gehen Sie da nicht hin“, wiederholte er.
„Es wäre nicht gut.“
Er stand auf, nahm seinen Hut, straffte sich mühsam, das Kreuz mit den Händen stützend, und ich sah, daß sein Gesicht ganz schwarz war, dreck — oder rußverschmiert; die komische Brille saß schief und der kleine Mund war fest zusammengepresst, als leide er starke Schmerzen. Er rückte die Brille zu recht und sagte, kaum die Lippen bewegend:
„Noch eine Mappe. Eine weiße. Noch eine Kapitulation.“ Ich schwieg. Gluchow schlug seinen Hut leicht ans Knie, als staube er ihn ab, rieb ihn dann mit dem Ärmel. Auch er schwieg, ging jedoch nicht. Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde.
„Sie müssen verstehen“, begann er schließlich wieder,
„kapitulieren ist immer furchtbar. Im vorigen Jahrhundert erschoss man sich sogar, um nicht zu kapitulieren. Keineswegs aus Angst vor Folterungen oder KZ, auch nicht aus Angst, etwas beider Folter zu verraten, nein, einfach aus Schmach.“
„Das ist auch in unsrem Jahrhundert passiert“, sagte ich.
„Und gar nicht so selten.“
„Ja, gewiss“, räumte er bereitwillig ein.
„Gewiss doch. Weil man sich nur ungern eingesteht, daß man nicht der ist, für den man sich gehalten hat. Man möchte partout so bleiben, wie man sonst immer gewesen ist, aber das ist unmöglich, wenn man kapituliert. Also kommt man nicht umhin… Und trotzdem, es gibt einen Unterschied. In unserem Jahrhundert erschießt man sich, weil man sich vor den anderen schämt, vor der Gesellschaft, den Freunden… Im vorigen Jahr-hundert erschoss man sich, weil man sich vor sich selber schämte. Komisch, aber in unserem Jahr-hundert glaubt man, daß der Mensch mit sich selber immer ins reine kommt. So ist es wohl auch. Ich weiß nicht, woran es liegt. Was da vor sich gegangen ist… Vielleicht, weil die Welt komplizierter geworden ist? Weil es außer solchen Begriffen wie Stolz oder Ehre massenhaft andere Dinge gibt, die zur Selbstbestätigung dienen können?“
Er blickte mich abwartend an. Ich zuckte die Achseln.
„Ich weiß nicht, vielleicht.“
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Gluchow.
„Da glaubt man nun, ich als erfahrener Kapitulant, wie lange denke ich schon darüber nach, nur immer darüber, wie viele beweiskräftige Argumente hab ich schon zusammen… Scheinbar hat man sich selber überredet, hat seine Ruhe gefunden — da plötzlich gibt’s einen Stich… Natürlich, zwanzigstes Jahr hundert, neunzehntes, ein Unterschied ist schon da. Aber Wunden bleiben Wunden. Sie verheilen, vernarben, du hast sie schon fast vergessen — da schlägt das Wetter um, und sie schmerzen wieder. So ist es immer gewesen, in allen Jahrhunderten.“
„Ich verstehe“, sagte ich.
„Verstehe alles. Aber es gibt solche und solche Wunden. Manchmal tun einem fremde mehr weh.“
„Gott bewahre!“ flüsterte er.
„Darauf will ich doch gar nicht hinaus. Nie würde ich mich unterstehen. Ich sage das nur so. Glauben Sie um Himmels willen nicht, daß ich Ihnen abraten will oder überhaupt etwas raten… Ausgerechnet ich… Wissen Sie, dauernd geht mir durch den Kopf: Solche wie wir — was sind wir bloß für Menschen? Sind wir wirklich so gut erzogen, von unserer Zeit, unserem Land, oderumgekehrt — sind wir ein Atavismus,Troglodyten? Warum zermartern wir uns so? Die Antwort finde ich nicht.“
Ich schwieg. Gluchow stülpte sich lasch seinen komischen Hut auf.
„Na ja — dann leben Sie wohl, Dmitri Alexejewitsch“, sagte er.
„Wir sehen uns gewiss nie wieder. Trotzdem war es mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Und Sie machen wirklich ausgezeichneten Tee.“
Er nickte mir zu und setzte sich treppab in Bewegung.
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