„Du suchst Blödiana, Unglücklicher! Dabei weißt du sehr wohl, daß sie schon seit fünfhundert Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt und wie vergeblich und fruchtlos deine Leidenschaft somit ist. Es gibt nur eins, was ich für dich tun kann, du sollst sie sehen, zwar nicht in Fleisch und Blut, doch als wohlgestaltetes, informationales Faksimile, als Modell, welches nicht physikalisch, sondern stochastisch, nicht plastisch, sondern ergodisch und doch erotisch ist… ich habe es in meiner freien Zeit aus allerlei Wüstenabfällen zusammengebastelt!“
„Ach, zeig sie mir! Zeig sie mir doch!“ schrie Voluptikus. Der Alte nickte, las aus dem Folianten die Koordinaten der Prinzessin ab, programmierte Blödiana und das gesamte Mittelalter auf Lochkarten, schaltete den Strom ein, öffnete den Deckel der Black Box und sagte:
„Nun schau sie an und schweig fein still!“
Bebend vor Verlangen neigte sich der König über die Box und erblickte tatsächlich das Mittelalter, nichtlinear und binär codiert, und mitten darin lag das Land Dandelia, mit seinem Eiswald, dem königlichen Palast, dem Schneckenturm, dem Vogelhaus mit Wiehern und dem Schatz mit den hundert Augen; und da war Blödiana selbst zu sehen, wie sie einen stochastischen Spaziergang durch ihren simulierten Lustgarten machte; und ihre Stromkreise erglühten abwechselnd in tiefem Rot und strahlendem Gold, als die modellierte Prinzessin modellierte Gänseblümchen pflückte und dazu ein modelliertes Liedchen summte. Voluptikus, der sich nicht länger bezähmen konnte, sprang auf die Black Box und versuchte, von holdem Wahnsinn gepackt, in die computerisierte Welt hineinzuklettern. Doch der würdige Alte schaltete rasch den Strom ab, brachte den König mit sanfter Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurück und sagte:
„Wahnsinniger! Du verlangst Unmögliches, denn kein Wesen aus realer Materie vermag jemals ins Innere jener Welt vorzudringen, die nichts ist als das Kreisen und Pulsieren binär codierter Elemente in alphanumerischer, nichtlinearer und diskreter Modellierung!“
„Aber ich muß! Ich muß!“ schrie Voluptikus völlig außer sich und trommelte mit beiden Fäusten so heftig gegen die Black Box, daß tiefe Beulen im Blech entstanden.
„Wenn dein Verlangen wirklich so heiß und dein Wille unabänderlich ist, so will ich dir einen Weg zeigen, der dich mit Prinzessin Blödiana vereint, allerdings mußt du zunächst von deiner gegenwärtigen Gestalt für immer Abschied nehmen, denn ich werde deine persönlichen Koordinaten vermessen und dich selbst Atom für Atom modellieren, dann programmiere ich dich, und dank dessen wirst du ein Teil jener mittelalterlichen und modellierten Welt, und du wirst es bleiben, solange Elektronen durch diese Drähte fließen und von Kathode zu Anode hüpfen. Doch du, so wie du jetzt vor mir stehst, wirst annihiliert und kannst in keiner anderen Form weiterleben als in der bestimmter Felder und Potentiale, somit statistisch, heuristisch und stochastisch!“
„Wie kann ich dir glauben?“ fragte Voluptikus. „Woher weiß ich, daß du mich modellierst und nicht jemand anderen?“
„Gut, wir machen einen Probelauf!“ sagte der Alte; dann schaute er sich den König von allen Seiten genau an und nahm maß, wie das ein Schneider tut, jedoch mit sehr viel größerer Präzision — schließlich mußte er jedes einzelne Atom vermessen und abwiegen — dann speiste er das Programm in die Black Box ein und sagte: „Sieh her!“
Der König schaute ins Innere der Box und sah, wie er selbst am Kamin saß und einen uralten Folianten über Pfinzessin Blödiana las, wie er aufbrach, um sie zu suchen, wie er überall herumfragte und schließlich inmitten der vergoldeten Wüste auf eine armselige Hütte und einen Schneeweißen Alten traf, der ihn mit den Worten begrüßte:
„Du suchst Blödiana, Unglücklicher!“ Und so weiter.
„Jetzt bist du wohl überzeugt!“ sagte der Alte. „Ich werde dich also ins Mittelalter hineinprogrammieren, an die Seite der wunderschönen Blödiana, damit du einen niemals endenden Traum mit ihr träumst, binär codiert, simuliert und nichtlinear…“
„Ich verstehe“, sagte der König, „aber das ist doch nur mein Ebenbild und nicht ich, denn ich selbst bin ja hier und nicht in irgendeiner Box!“
„Bald wird es dich auch hier nicht mehr geben“, antwortete der Alte. „Das laß nur meine Sache sein!“
Mit diesen Worten zog er einen Hammer unter dem Bett hervor, schwer und handlich. „Sobald du in den Armen deiner Geliebten ruhst, werde ich dafür sorgen, daß es dich nicht mehr zweimal gibt, einmal hier, und einmal dort in der Box — und zwar werde ich mich einer Methode bedienen, die ein wenig alt und primitiv, jedoch sehr zuverlässig ist, also tu mir die Liebe und neige dein Haupt ein wenig!“
„Zuerst mußt du mir noch einmal Blödiana zeigen“, sagte der König, „denn ich will sehen, ob deine Methode auch wirklich vollkommen ist…“
Der Alte zeigte ihm Blödiana durchs Schauglas der Black Box. Der König schaute und schaute und sagte schließlich:
„Die Beschreibung in dem alten Wälzer ist stark übertrieben. Sie ist nicht übel, gewiß, doch bei weitem nicht so schön, wie die Chroniken sagen. Auf Wiedersehen, Alter…“
Und er wandte sich zum Gehen.
„Was tust du? Wohin, Wahnsinniger?!“ schrie der Alte und griff nach dem Hammer, denn der König war schon beinahe zur Tür hinaus.
„Überall hin, nur nicht in die Box!“ sagte Voluptikus, doch genau in diesem Moment platzte der Traum unter seinen Füßen wie eine Seifenblase, und er fand sich im Vestibül des Palastes wieder und erblickte den bitter enttäuschten Perfidolin, enttäuscht, weil der König so nahe daran gewesen war, in der Black Box eingeschlossen zu werden, aus der ihn der Thaumaturg und Apotheotiker der Krone niemals wieder herausgelassen hätte…
„Hör zu, mein Seeleningenieur“, sagte der König, „in deinen Träumen mit Prinzessinnen gibt es zu viele Schwierigkeiten. Entweder verschaffst du mir jetzt einen, in dem ich Sinnesfreuden nach Herzenslust genießen kann — ohne Tricks und Fisimatenten — oder du verschwindest mir sofort aus dem Palast, und zwar mitsamt deinen Schränken!“
„Herr und Gebieter!“ antwortete Perfidolin. „Ich habe den richtigen Traum für Euch, von bester Qualität und maßgeschneidert. Probiert ihn nur und Ihr werdet sehen, wie recht ich habe!“
„Was ist das für ein Traum, den du so anpreist?“ fragte der König.
„Dieser hier, Majestät! „sagte der Apotheotiker der Krone und deutete auf das kleine Perlmuttäfelchen mit der Inschrift:
„Mona Lisa oder das Labyrinth der süßen Unendlichkeit“. Und bevor der König ja oder nein sagen konnte, griff Perfidolin nach dem Stecker, der an der Uhrkette des Monarchen hing, und er tat es rasch, denn er sah, daß die Dinge schlecht standen: Voluptikus war der ewigen Gefangenschaft in der Black Box entgangen, ohne Zweifel, weil er zu wenig sensibel war, um den Reizen der bezaubernden Blödiana für immer zu erliegen.
„So warte doch“, sagte der König. „Ich will es selbst tun.“ Er steckt den Stecker hinein und schlüpft ins Innere des Traumes, nur um zu sehen, daß er immer noch er selbst, Voluptikus, ist, im Vestibül des Palasts stehend, Perfidolin den Kybernerianer an seiner Seite, der ihm erklärt, daß „Mona Lisa“ mit Abstand der liederlichste und ausschweifendste aller Träume sei, weil sich in ihm die Unendlichkeit des schöneren Geschlechts eröffne; Voluptikus hört zu, steckt den Stecker hinein und schaut sich nach Mona Lisa um, denn er spürt bereits heftiges Verlangen nach ihren holdseligen Liebkosungen, doch im nächsten Traum befindet er sich immer noch im Vestibül des Palasts mit dem Hofthaumaturgen an seiner Seite, also schaltet er sich ungeduldig in den nächsten Traum ein, doch es ist wieder dasselbe, das Vestibül, die Schränke, der Seeleningenieur und er selbst. „Ist dies nun ein Traum oder nicht?“ ruft er, stöpselt ein, und da sind wieder das Vestibül, die Schränke und der Kybernerianer; noch einmal, wieder dasselbe — und noch einmal, und noch einmal, immer schneller. „Wo ist Mona Lisa, du Schurke?!“ schreit er und zieht den Stecker heraus, um aufzuwachen — aber nein, er ist immer noch im Vestibül mit den Schränken! Rasend vor Wut stampft er mit dem Fuß auf und hastet von Traum zu Traum, von Schrank zu Schrank, von Perfidolin zu Perfidolin, doch jetzt kümmert ihn der Traum nicht mehr, er will nur zurück in die Wirklichkeit, zurück zu seinem geliebten Thron, zu den Hofintrigen und wüsten Gelagen, und er reißt den Stecker heraus, stöpselt ihn aufs Geradewohl wieder ein, zieht ihn erneut heraus… „Zu Hilfe!“ ruft er, „der König ist in Gefahr!“ und „Mona Lisa! He! Hallo!“ während er von Panik erfaßt aufspringt, wild von einer Ecke in die andere jagt und den ganzen Traum verzweifelt nach einer Ritze absucht, doch vergeblich. Er verstand nicht, was da eigentlich vor sich ging, denn dazu war er zu begriffsstutzig, aber diesmal konnten ihn weder seine Stumpfsinnigkeit, noch seine Furchtsamkeit, noch sein übermäßiger Geiz mehr retten. Denn er war bereits in allzu viele Träume verstrickt, allzu viele hatten ihn bereits in ihre dichten Kokons eingesponnen, und wenngleich er den einen oder anderen unter Aufbietung aller Kräfte zerreißen konnte, half ihm das nichts, weil er nur noch tiefer im nächsten Traum versank, und wenn er den Stecker aus dem Schrank zog, dann waren beide, Stecker wie Schrank, nur geträumt, nicht real, und als er Perfidolin schlagen wollte, erwies sich auch Perfidolin als Trugbild. Der König jagte und hetzte, hierhin, dorthin, wieder zurück, doch überall war alles nur ein Traum, ein Traum und nichts als ein Traum, die Tore, die Marmorbö den, die goldbestickten Vorhänge mit ihren Troddeln und Quasten, und schließlich Voluptikus selbst ein Traum, ein wandelnder Schatten, ein hohles Truggebilde, flüchtig und vergänglich, verloren in einem Labyrinth von Träumen und immer tiefer darin versinkend, obwohl er noch immer um sich schlug und mit den Füßen trat — doch auch das geschah nur im Traum. Er schlug Perfidolin den Schädel ein — doch es half nichts, denn es geschah nicht wirklich, er brüllte wie am Spieß, brachte jedoch keinen wirklichen Laut hervor, und als er sich schließlich — benommen und halb von Sinnen — tatsächlich den Weg in die Wirklichkeit freigekämpft hatte, da hielt er sie für einen Traum und schaltete sich rasch wieder aus; das konnte auch gar nicht anders sein, und vergeblich jammerte er, endlich aufwachen zu dürfen, denn er wußte nicht, daß „Mona Lisa“ — in Wirklichkeit — eine diabolische Kontamination des Wortes „Monarcholyse“ war, d.h. der Disjektion, Dissoziation und völligen Dissolution des Königs. Und wahrlich, von allen Fallen, die ihm der tückische Thaumaturg und Apotheotiker der Krone gestellt hatte, war dies mit Abstand die furchtbarste…“
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