Vom Solarium begaben sie sich geradewegs in den Speisesaal, um zu essen — es war die dritte Mittagsmahlzeit hintereinander. Das Leben auf dem Mond schien nur aus Mittagessen zu bestehen. Der Speisesaal, der zugleich Gemeinschaftsraum war, hatte mittlere Ausmaße; seine Wände waren mit Holz verschalt, es handelte sich um richtige Kiefernbretter, die sogar nach Harz rochen. Diese außergewöhnliche Erdverbundenheit war Pirx nach den gleisnerischen Mondlandschaften besonders lieb und wert. Professor Ganschin verriet ihnen, es handele sich nur um eine dünne Schicht und sie diene lediglich dem Zweck, das Heimweh der Männer ein wenig zu dämpfen.
Während des Essens und auch danach schwieg man sich über Mendelejew, über den Unfall und über die unglücklichen Kanadier aus. Man sprach auch nicht vom Abflug; es war ganz so, als wären sie für längere Zeit zu Besuch gekommen. Die Russen waren überaus zuvorkommend, sie widmeten sich ihren Gästen, als gäbe es für sie nichts weiter zu tun. Sie fragten nach Neuigkeiten und gaben Pirx recht, der sich über das Touristenunwesen beklagte. Ab und zu ging einer von ihnen hinaus, kehrte aber rasch wieder zurück. Später stellte sich heraus, daß sie ins Observatorium eilten — auf der Sonne war eine sehr schöne Protuberanz entstanden. Als dieses Wort fiel, hatte für Langner alles andere zu existieren aufgehört. Eine Besessenheit, wie sie nur Wissenschaftlern eigen ist, hatte die ganze Gesellschaft erfaßt. Man brachte Fotos und sah sich einen Film an, den der Koronograph gedreht hatte. Die Protuberanz war tatsächlich außerordentlich groß, sie maß siebenhundertfünfzigtausend Kilometer und sah aus wie ein vorsintflutliches Gebilde mit flammendem Rachen. Ganschin, Pnin, der dritte Astronom und Langner schalteten das Licht ein und unterhielten sich mit leuchtenden Augen — sie waren taub für alles andere. Als jemand an das unterbrochene Mittagessen erinnerte, kehrten sie in den Speiseraum zurück, aber sie schoben die Teller beiseite, bekritzelten die Papierservietten mit Zahlenkolonnen und fachsimpelten weiter. Dr. Pnin hatte ein Einsehen mit Pirx, der wie bei einer türkischen Predigt dasaß. Er bat ihn in sein Zimmer, das sehr klein war, aber einen bemerkenswerten Vorzug aufwies: es hatte ein großes Fenster, das den Blick auf den östlichen Gipfel des Ziolkowski-Massivs freigab. Die tiefstehende Sonne, die wie ein Höllentor klaffte, warf in das Gewirr der sich auftürmenden Felsen lange Schatten, die mit ihrer Schwärze alle Formen verschlangen, als klaffte hinter jedem Rand des erhellten Gesteins ein teuflischer Schacht, der bis zum Mittelpunkt des Mondes führte. Das Nichts schien sich in Berggipfel, schräge Türme, Zinnen und Obeliske aufzulösen, die der tintenschwarzen Finsternis entsprangen — wie ein Fels gewordenes Feuer, das i Fluge erstarrt war. Das Auge verlor sich inmitten all dieser Formen, die sich in keiner Weise zu einem Ganzen zusammenfügen ließen, es fand nur in den runden Höhlen der Schwärze, die leeren Augenhöhlen glichen, einen zweifelhaften Halt, in den bis zum Rand mit Schatten angefüllten Tümpeln der kleinen Krater.
Es war ein einmaliger Anblick. Pirx war schon auf dem Mond gewesen — er hatte das bereits sechsmal betont —, aber noch nie zu dieser Zeit, neun Stunden vor dem Sonnenuntergang.
Pirx saß lange bei Pnin. Der Wissenschaftler sagte „Herr Kollege“ zu ihm, und er wußte nicht, wie er antworten sollte, er versuchte, die Anrede zu vermeiden, so gut es ging. Der Russe besaß eine phantastische Sammlung von Fotos, die er bei Kletterpartien gemacht hatte — er, Ganschin und ihr dritter Gefährte, der gegenwärtig auf der Erde weilte, widmeten ihre Freizeit der Alpinistik. Man hatte versucht, das Wort „Lunistik“ in Umlauf zu bringen, aber der Begriff hatte sich nicht eingebürgert, zumal es ohnehin die „Mondalpen“ gab. Pirx, der bereits vor seinem Eintritt in das Institut ein begeisterter Kletterer gewesen war, fand in Pni eine verwandte Seele, und er begann ihn auszufragen, worin sich das Bergsteigen auf dem Mond von der irdischen Alpinistik unterscheide.
„Sie dürfen eines nicht vergessen, Herr Kollege“, sagte Pnin. „Tun Sie, solange es geht, alles so, als wären Sie auf der Erde. Eis gibt es hier nicht — wohl nur in sehr tiefen Spalten, und auch das unerhört selten —, und Schnee, versteht sich, gibt es auch nicht. Das verleitet zu der Annahme, das Bergsteigen sei sehr leicht, um so mehr, als man aus dreißig Meter Höhe abstürzen kann, ohne daß einem etwas geschieht. Aber daran darf man nicht denken.“
Pirx wunderte sich sehr. „Wieso?“
„Weil es hier keine Luft gibt“, erklärte der Astrophysiker. „Selbst wenn Sie noch so lange herumsteigen, Sie werden es nie lernen, die Entfernung richtig zu schätzen. Hier vermag nicht einmal der Entfernungsmesser viel zu helfen, und wer nimmt schon einen Entfernungsmesser mit? Sie erklimmen einen Gipfel, schauen in den Abgrund und haben die Vorstellung, er sei fünfzig Meter tief. Vielleicht ist er wirklich fünfzig Meter tief, vielleicht aber auch dreihundert oder fünfhundert. Mir passierte es Übrigens, Sie wissen ja, wie das ist. Wenn man sich erst einmal gesagt hat, daß man ohne weiteres abstürzen kann, dann wird das früher oder später wirklich passieren. Auf der Erde kann man sich den Kopf lädieren, und er heilt wieder, aber hier genügt ein fester Schlag auf den Helm, so daß die Scheibe platzt, und alles ist vorbei. Sie müssen sich also genauso wie in den irdischen Bergen verhalten. Was Sie sich dort erlauben, können Sie sich auch hier erlauben. Ich möchte Ihnen jedoch abraten, über einen Spalt zu springen. Selbst wenn Sie annehmen, daß er höchstens zehn Meter breit sei — was soviel wie anderthalb Meter auf der Erde wäre —, tun Sie es nicht, sondern werfen Sie erst einen Stein auf die andere Seite und beobachten Sie seinen Flug. Offen gesagt, ich rate Ihnen, überhaupt nicht zu springen, und dieser Rat kommt vom Herzen. Wenn man nämlich ein paarmal zwanzig Meter weit gesprungen ist, dann bereiten eine auch Abgründe keinen Schrecken mehr, und die Berge erscheinen einem so klein, als reichten sie nur bis zum Knie. Wenn diese Überheblichkeit eintritt, dann kann leicht etwas passieren. Einen Bergrettungsdienst gibt es hier nicht. Sie begreifen als Pirx erkundigte sich nach der Mendelejew-Station. Warum die Station am Kamm und nicht unten und ob der Weg dorthin schwierig sei Ob man klettern müsse
„Eine echte Kletterpartie gibt es da nicht, nur einige exponierte Stellen, und auch die nur, weil dort eine Lawine niedergegangen ist. Das war unterhalb des Sonnentors, sie hat den Weg fortgerissen. Und was die Lokalisierung betriffi, so fällt es mir schwer, etwas dazu zu sagen, vor allem jetzt, nach dem Unglück Aber Sie müssen doch auch einiges darüber gelesen haben, ode Pirx, völlig verwirrt, geriet ins Stottern. Er sagte, er habe damals gerade eine Prüfung gehabt. Pnin mußte lächeln, aber er wurde gleich wieder ernst.
„Nun ja der Mond ist internationalisiert, und jeder Staat hat seine eigene Zone, die wissenschaftlichen Forschungen vorbehalten ist. Wir haben diese Hemisphäre. Als sich herausstellte, daß die Van-Allan-Gürtel die kosmische Strahlung auf der Hemisphäre stören, die der Erde zugewandt ist, haben sich die Engländer an uns gewandt und uns um die Erlaubnis gebeten, die Station auf unserer Seite zu errichten. Wir waren einverstanden. Da wir gerade selbst auf Mendelejew Arbeiten durchführten, schlugen wir ihnen vor, daß sie die Station von uns übernehmen. Verrechnen wollten wir hinterher. Die Engländer akzeptierten das, traten dann aber Mendelejew an die Kanadier ab, da diese zum britischen Commonwealth gehörten. Uns war das natürlich einerlei. Da wir bereits vorher eine Erkundung des Bodens durchgeführt hatten, wurde einer von uns, Professor Animzew, beratendes Mitglied der australischen Planungsgruppe — er kannte sehr gut die lokalen Bedingungen. Plötzlich erfuhren wir, daß sich die Engländer dennoch an dieser Sache beteiligten. Sie schickten Shanner, der erklärte, daß auf dem Boden des Kraters sekundäre Strahlungsbündel entstehen könnten und die erzielten Ergebnisse stören würden. Unsere Spezialisten waren der Meinung, daß das unmöglich sei, aber schließlich gaben die Engländer den Ausschlag: Es sollte ja ihre Station sein. Sie beschlossen, sie unter den Kamm zu verlegen. Das verteuerte die Sache natürlich erheblich, und die gesamten Mehrkosten wurden von den Kanadiern getragen. Aber das war ja nicht so wichtig. Fremde Taschen gehen uns nichts an. Die Lage der Station wurde also bestimmt, und man ging daran, den Weg festzulegen. Animzew berichtete uns davon, denn die Briten wollten anfangs zwei Abgründe auf der Trasse des geplanten Weges durch Eisenbetonbrücken überqueren, doch die Kanadier sprachen sich dagegen aus, weil das die Kosten verdoppeln würde. Nun wollten sie sich in den inneren Hang des Mendelejew hineinbeißen, das heißt zwei Felsrippen mit Richtungsexplosionen durchstoßen. Ich riet ihnen ab, denn das könnte das Gleichgewicht des kristallenen Basaltgrundes stören, aber sie wollten nicht hören. Was hätten wir tun sollen? Sie waren doch keine Kinder! Wir besaßen mehr selenologische Erfahrung, aber wir wollten ihnen unsere Ratschläge auch nicht aufzwingen. Animzew legte sein Votum separatum ein, und dabei blieb es. Sie fingen an, den Felsen wegzuschießen. Der erste Unfug — die Lokalisierung der Station — zog den zweiten nach sich, und die Folgen ließen leider nicht auf sich warten. Die Engländer bauten drei Lawinenschutzmauern, nahmen die Station in Betrieb, Raupentransporter wurden eingesetzt — und, bitte sehr, es gelang. Die Station arbeitete bereits drei Monate, als sich zu Füßen des Überhanges unter dem Sonnentor, dieser großen westlichen Scharte des Kammes, Risse zeigten Pnin erhob sich, nahm mehrere große Fotos aus dem Schubfach und zeigte sie Pirx. „Da, an dieser Stelle. Es ist vielmehr war eine anderthalb Kilometer lange Platte, die an einigen Stellen überhing. Der Weg verlief ungefähr in einem Drittel der Höhe, wie diese rote Linie hier. Die Kanadier bliesen Alarm. Animzew, der immer noch dort war und auf sie einredete, erläuterte ihnen: „Der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht beträgt dreihundert Grad. Die Risse werden sich vergrößern, dagegen hilft nichts. Eine anderthalb Kilometer lange Wand kann man nicht stützen! Der Weg muß sofort gesperrt werden, und da die Station bereits fertig ist, muß eine Seilbahn gebaut werden!„Man ließ einen Experten nach dem anderen aus England und aus Kanada kommen — das Ganze wurde zur Komödie: Die Experten, die das gleiche wie unser Animzew sagten, wurden sofort nach Hause geschickt. Es blieben nur diejenigen, die gegen die Spalte irgendeinen Rat wußten. Sie begannen zu zementieren. Tiefe Spritzen, Stütze — sie zementierten und zementierten endlos, denn was sie am Tage mit Zement abdichteten, barst in der folgenden Nacht wieder. Über die flache Rinne kamen bereits Lawinen, doch die wurden durch die Mauern aufgehalten. Sie bauten ein System von Keilen, um die größeren Lawinen zu zerteilen. Animzew versuchte, ihnen klarzumachen, daß es nicht nur um die Lawinen gehe — die ganze Platte könne niederstürzen!
Читать дальше