In einem Zweibettzimmer saß unter der Deckenleuchte ein kleiner Mann in einer verblichenen Windjacke — rothaarig, leicht ergraut, mit einer auf die Stirn fallenden Haarsträhne und gebräuntem Gesicht. Bei Pirx’ Eintritt nahm er die Brille ab. Er hieß Langner, Dr. Langner, war Astrophysiker und sollte mit ihm zum Mendelejew fliegen. Das also war der unbekannte Mondgefährte! Pirx, der bereits auf das Schlimmste gefaßt war, nannte seinen Namen, brummelte etwas und setzte sich. Langner war etwa vierzig — in Pirx’ Augen ein gut konservierter Greis. Er rauchte nicht, wahrscheinlich trank er nicht, und vom Reden schien er auch nicht viel zu halten. Er las drei Bücher auf einmal. Das eine war eine Logarithmentafel, das zweite enthielt Formeln, in dem dritten waren lauter Fotos von Spektralskalen abgebildet. In der Hosentasche hatte er einen Arhythmographen, er wußte sich seiner bei Berechnungen geschickt zu bedienen. Hin und wieder stellte er Pirx eine Frage, ohne von seinen Formeln aufzuschauen — Pirx antwortete ihm, den Mund voller Kekse. Das Zimmer war eine Kammer mit zwei Betten und einer Duschecke, in die kein dicker Mann hineinpaßte. Auf kleinen Schildern wurden die Gäste in verschiedenen Sprachen ersucht, Wasser und Strom zu sparen. Man konnte schon zufrieden sein, daß es nicht verboten war, zu seufzen, denn schließlich wurde ja auch Sauerstoff zugeführt. Pirx trank nach den Keksen ein wenig Leitungswasser, es war so kalt, daß ihm die Zähne weh taten. Offenbar waren die Behälter dicht unter der oberen Basaltrinde angebracht. Merkwürdig Nach Pirx’ Uhr war es elf, nach Langners zehn Minuten nach Mitternacht und nach der elektrischen an der Wand sieben Uhr abends.
Sie stellten die Uhren auf Mondzeit um, obwohl sie wußten, daß auch die nur vorübergehend gültig war, denn Mendelejew hatte wie die ganze „andere Seite“ eine eigene Zeit.
Bis zum Start der Rakete verblieben neun Stunden. Langner verließ wortlos den Raum. Pirx schob den Sessel unter die Deckenleuchte und vertrieb sich die Zeit, indem er in ein paar alten, zerknitterten Zeitschriften las, die auf de kleinen Tisch lagen. Schließlich konnte er nicht länger stillsitzen und trat hinaus. Der Korridor ging hinter der Biegung in eine kleine Diele über, in der mehrere Sessel standen. Ihnen gegenüber war ein Fernsehgerät in die Wand eingelassen. Ein Programm für Luna-Hauptstation aus Australien lief gerade, es war ein Bericht über Leichtathletikwettkämpfe. Sie interessierten ihn nicht sonderlich, aber er nahm Platz und sah zu, bis er schläfrig wurde. Er stand auf und schnellte einen halben Meter hoch — er hatte die geringe Schwerkraft vergessen.
Wann endlich durfte er die Zivilkleidung ablegen und von wem würde er einen Skaphander bekommen? Wo waren die Instruktionen? Was hatte das alles zu bedeuten? Er wäre irgendwo hingegangen, um sich zu erkundigen, aber dieser Dr. Langner schien die Situation offenbar für die normalste der Welt zu halten Na, meinetwegen! dachte Pirx. Wenn er nichts sagt, dann sage ich auch nichts
Die Übertragung war zu Ende. Pirx schaltete das Gerät aus und kehrte in sein Zimmer zurück. So hatte er sich den Aufenthalt auf dem Mond nicht ausgemalt. Als er unter der Dusche stand, hörte er durch die dünne Wand Stimmen — im Nebenzimmer unterhielten sich Touristen, die er aus der Gaststätte kannte. Der Mond schien sie in Euphorie versetzt zu haben. Er, Pirx, verspürte nichts dergleichen. Er wechselte das Hemd, nur um irgend etwas zu tun, und als er sich aufs Bett legte, kehrte Langner zurück — mit vier anderen Wälzern.
Pirx überrieselte es kalt, in ihm regte sich der Verdacht, einen fanatischen Wissenschaftler vor sich zu haben, eine jüngere Version von Professor Merinus.
Langner legte neue Fotogramme auf den Tisch und betrachtete sie durch die Lupe. Er war aufs höchste gespannt — so eifrig pflegte Pirx nicht einmal die Fotos von Schauspielerinnen zu studieren. Unvermittelt fragt er Pirx nach seinem Alter.
„Hundertelf“, antwortete Pirx, und als der Astrophysiker den Kopf hob, fügte er hinzu: „Im Zweiersystem.“
Langner lächelte zum erstenmal, und dadurch wirkte er fast menschlich. Er hatte kräftige weiße Zähne.
„Die Russen schicken uns eine Rakete“, sagte er. „Wir fliegen zu ihnen.“
„Zur Ziolkowski-Station?“
„Ja.“
Das war bereits eine Station auf der „anderen Seite“. Also noch einmal umsteigen, überlegte Pirx. Und die restlichen tausend Kilometer? Mit einem Geländefahrzeug werden wir sie wohl kaum zurücklegen, eher mit einer Rakete Er wollte nicht fragen, wollte nicht eingestehen, daß er nichts wußte. Langner setzte zum Sprechen an, aber er unterließ es. Pirx war eingenickt. Plötzlich wachte er auf, Langner stand über sein Bett gebeugt und berührte seine Schulter. „Es ist Zeit“, sagte er nur.
Pirx setzte sich auf. Langner schien die ganze Zeit gelesen und geschrieben zu haben — der Stoß Papiere mit den Berechnungen war angewachsen. Im ersten Moment dachte Pirx, Langner meine das Abendessen, aber es handelte sich bereits um den Start. Pirx lud sich den vollgestopften Rucksack auf. Langners Tornister war noch größer und schwerer, er schien Steine zu enthalten. Später stellte sic heraus, daß außer Hemden und Toilettenartikel lauter Bücher darin steckten.
Ohne durch den Zoll zu müssen und ohne jede andere Kontrolle gelangten sie in das obere Niveau, wo eine Rakete auf sie wartete. Das ehemals silberfarbene, aber nun graue, dickbauchige Projektil stand auf drei gebogenen, gespreizten, etwa zwanzig Meter hohen Füßen. Es war nicht aerodynamisch geformt — es gibt auf dem Mond keine Atmosphäre. Mit solch einer Rakete war Pirx noch nie geflogen. Ein Astrochemiker sollte sich ihnen anschließen, aber er ließ sich nicht blicken. Sie starteten ohne ihn zur festgesetzten Zeit.
Aus dem Fehlen einer Atmosphäre erwuchsen besondere Schwierigkeiten. Man konnte keine Flugzeuge benutzen, keine Hubschrauber — nichts, außer Raketen. Nicht einmal die im schwierigen Gelände so bequemen Luftkissenboote waren zu verwenden. Raketen sind zwar schnell, sie können aber nicht überall landen, sie mögen weder Berge noch Felsen.
Das bauchige, dreibeinige Insekt heulte auf, dröhnte und raste kerzengrade in die Höhe. Die Kabine war etwa doppelt so groß wie das Hotelzimmerchen. An den Wänden leuchteten Illuminatoren, in der Decke war ein rundes Fenster angebracht, der Pilot saß nicht oben, sondern unten, fast zwischen den Auspuffdüsen, damit er die Landeplätze gut erkennen konnte. Pirx kam sich vor wie ein Gegenstand, wie ein Paket, das man irgendwohin schickte. Er kannte weder Grund noch Ziel der Reise — jedenfalls nicht genau —, und er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Das ewige Lied
Sie waren auf die Parabel gekommen. Die Kabine neigte sich schräg, sie schleppte die langen Beine hinter sich her. Unter ihr glitt die riesige gewölbte Mondscheibe dahin, der Erdtrabant sah aus, als habe ihn noch keines Menschen Fuß betreten. Im Raum zwischen Erde und Mond gibt es eine Zone, in der beide Körper gleich groß erscheinen. Pirx erinnerte sich noch genau des Eindrucks, den er bei seinem ersten Flug empfangen hatte. Die Erde, bläulich schimmernd, nebelverhangen, mit den verwaschenen Konturen der Kontinente, wirkte weniger real als der Mond, der wie ein Stein dahing, mit scharf hervortretenden Felsenreliefs. Sein statistisches Gewicht war nahezu fühlbar.
Sie flogen über dem „Meer der Wolken“, den Krater des Bullialdus hatten sie bereits hinter sich. Im Südosten lag der Tycho, umgeben vom Glorienschein seiner Strahlen, die über den Äquator bis auf die „andere Seite“ reichten. Wie gewöhnlich herrschte in dieser beträchtlichen Höhe ein Eindruck vor, der sich schwer definieren ließ — eine übergeordnete Regelmäßigkeit schien diesen Felsentotenkopf geformt zu haben. Der Tycho war vom Sonnenlicht überflutet, er umfaßte und durchschnitt mit seinen weißlichen Armen das Mare Humorum und das Mare Nubium, und sein nördlicher Ausläufer, der größte übrigens, verschwand irgendwo hinter dem Horizont in Richtung Mare Serenitatis. Als jedoch im Osten der Zirkus des Clavius hinter ihnen lag und sie sich über dem Äquator herabzulassen begannen und schon auf der „anderen Seite“ über dem „Meere der Träume“ flogen, schwand in dem gleichen Maße, wie sich die Rakete senkte, die Illusion von der Ordnung. Die scheinbar glatte, dunkle Oberfläche des „Meeres“ offenbarte nun ihre Risse und Spalten. Sie verloren ständig an Höhe, und nun zeigte der Mond aus der Nähe, was er in Wirklichkeit war — Hochplateaus, Ebenen, Krater und Ringberge waren gleichermaßen durch Trichter des kosmischen Bombardements aufgewühlt. Ringe von Felsresten, von Lava griffen ineinander über, sie durchdrangen einander, als ob jene, die diesen titanischen kosmischen Beschuß vollführt hatten, noch immer nicht mit der erreichten Zerstörung zufrieden wären. Ehe Pirx das Ziolkowski-Massiv erkennen konnte, stellte sich die Rakete, deren Geschwindigkeit durch das Einschalten der Triebwerke beschleunigt worden war, senkrecht auf. Das letzte, was Pirx zu sehen bekam, war ein Ozean der Finsternis, ein Ozean, der die ganze westliche Hemisphäre verschlang. Schon ragte hinter der Grenzlinie mit flammender Spitze der Lobatschewski-Gipfel hervor. Die Sterne im oberen Fenster standen unbewegt. Die Rakete ging nieder wie ein Fahrstuhl, und da sie durch die Flamme der eigenen Triebwerke hindurch mußte, die sich am Heck konzentrierte, knallten die Gase brüllend gegen die erhabenen Stellen der äußeren Panzerung. Das Ganze erinnerte ein wenig an das Eindringen in die Atmosphäre. Die Sessel klappten von selbst zurück. Die Rakete stürzte hinab wie eine Kugel, aber man spürte einen sanften Widerstand, mit dem die in entgegengesetzte Richtung speienden Düsen dem Fall entgegenwirkten. Plötzlich heulten die Düsen ohrenbetäubend auf. Aha, wir stellen uns auf das Feuer! dachte Pirx, um sich selbst zu beweisen, daß er schon ein echter Astronaut war, wenngleich noc ohne Diplom. Ein Schlag, ein Klappern, ein Krachen — ein gewaltiger Hammer schien auf die Steine einzuschlagen. Die Kabine fuhr sanft nach unten, wieder nach oben, sie ging auf und ab, und so schwankte sie noch eine gute Weile auf den wütend ächzenden Amortisatoren, auch dann noch, als sich die drei zwanzig Meter langen, gespreizten Füße der Rakete bereits fest in das Geröll gebohrt hatten.
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