Stanislaw Lem - Test

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Stanislaw Lem, Pole, Jahrgang 1921, ist heute einer der beliebtesten Autoren im Ostblock. Nach einem Debüt mit Lyrik, Kurzgeschichten und einem preisgekrönten Roman führte ihn sein Interesse an der Kybernetik in ein neues literarisches Genre: das der Science-fiction. Für Lem ist die Utopie mehr als ein Spiel der Phantasie. Sie wird für ihn zu einem Spiegel der gegenwärtigen Gesellschaft, in dem die Chancen künftiger Entwicklungen mitreflektiert werden, und damit zum Medium der Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Nicht immer finden die skurrilen Einfälle des überzeugten, dabei von Parteiideologie freien Marxisten den Beifall orthodoxer offizieller Stellen. Aber allein in der Sowjetunion beträgt die Gesamtauflage seiner Bücher weit über drei Millionen.
Die Geschichten sind im 21. bis 22. Jahrhundert in der westlichen Welt angesiedelt, in der die Menschheit das komplette Sonnensystem und umliegende Systeme zu besiedeln beginnt und bereits einige Kolonien auf Mond und Mars gegründet hat.
In den Geschichten geht es um den Piloten Pirx, der im Weltall oder auf extraterrestrischen Stationen beschäftigt ist. Er wird dabei eher als Antiheld dargestellt, an dem wenig Heroisches der „klassischen“ Weltraumhelden zu finden ist. Die immer wieder auftretenden Extremsituationen löst er durch gesunden Menschenverstand und etwas Glück. Der Gegenpart zu Pirx ist häufig ein Roboter oder eine andere Maschine (z. B. sein Raumschiff).
Die vorliegende Sammlung utopischer Geschichten zeigt die reiche Skala Lem’scher Phantasie. Geht es hier um die oft gespenstischen Abenteuer, die Weltraumnavigator Pirx mit detektivischem Verstand zu meistern hat, so entwikkeln dort überperfektionierte Küchenmaschinen eine beunruhigende Eigenaktivität. In Unterschmudorf schließlich scheitern ehrgeizige Pläne der Aldebaraner, und in Kybera entdeckt ein von der Kybernetik faszinierter König das Parkinsonsche Gesetz der Kriegsmaschinerie und läßt von da an das Kriegführen lieber sein.

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Stanislaw Lem

Test

Phantastische Erzählungen

Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages Volk und Welt, Berlin Deutsche Ausgabe:

Verlag Volk und Welt, Berlin, 1968

Inhalt

Test

Originaltitel: Test

aus: Inwazja z Aldebarana, Wydawnictwo literackie, Kraków, 1959

Der bedingte Reflex

Originaltitel: Odruch Warunkowy

aus: Noc księzycowa, Wydawnictwo literackie, Kraków, 1963

Albatros

Originaltitel: Albatros

aus: Inwazja z Aldebarana, Wydawnictwo literackie, Kraków, 1959

Terminus

Originaltitel: Terminus

aus: Księga robotow, Iskry, Warszawa, 1961

Die Waschmaschinentragödie

Originaltitel: Tragedia Pralnicza

aus: Noc księzycowa, Wydawnictwo literackie, Kraków, 1963

Invasion vom Aldebaran

Originaltitel: Inwazja z Aldebarana

aus: Inwazja z Aldebarana, Wydawnictwo literackie, Kraków, 1959

Von der Rechenmaschine, die mit dem Drachen kämpfte

Originaltitel: Bajka o Maszynie cyfrowej, co ze smokiem Walczyla aus: „Zycie literackie“, August 1963

Nachbemerkung

TEST

„Kadett Pirx!“

Eselswieses Stimme riß ihn aus seinen Träumen. Er hatte sich gerade vorgestellt, in dem Uhrtäschchen seiner alten Zivilhose unten im Schrank stecke noch ein Zweikronenstück. Eine klingende silberne Münze, längst vergessen. Vor einer Weile war er noch sicher gewesen, daß da nichts war, höchstens eine alte Postquittung, aber nach und nach nahm die Idee Gestalt an, daß die Münze dort sein konnte. Als Eselswiese ihn beim Namen rief, stand es für ihn fest, daß er das runde Geldstück deutlich zwischen den Fingern fühlte und sah, wie es sich in der kleinen Tasche abzeichnete. Ich könnte ins Kino gehen und würde dann immer noch eine halbe Krone übrigbehalten, dachte er. Oder nur zur Wochenschau, dann blieben mir sogar anderthalb Kronen. Wenn ich eine Krone zurücklege, kann ich für den Rest den Automaten spielen lassen. Wer weiß, vielleicht spuckt er mir pausenlos Kleingeld in die hingehaltene Hand — so viel, daß ich es kaum in den Taschen unterbringen kann Ich würde nur immer die Hand hinhalten, nur immer hinhalten Hatte nicht Smiga so etwas erlebt? Pirx beugte sich schon unter der Last des unverhofften Gewinns, da wurde er von Eselswiese unsanft geweckt.

Der Dozent verschränkte die Hände auf dem Rücken, verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein und fragte: „Was täten Sie, Kadett, wenn Sie bei einem Patrouillenflug auf das Schiff eines fremden Planeten stießen?“

Pirx öffnete den Mund, als wollte er die darin enthaltene Antwort vertreiben. Er sah aus wie der letzte Mensch — der letzte Mensch auf Erden, der zu erklären wüßte, was er zu tun hat, wenn er Raketen von fremden Planeten begegnet.

„Ich würde näher heranfliegen“, sagte er mit dumpfer, merkwürdig rauher Stimme. Die Lehrgangsteilnehmer wurden still. Sie witterten eine willkommene Abwechslung.

„Sehr gut“, sagte Eselswiese väterlich, „aber was weiter?“

„Ich würde stoppen“, platzte Kadett Pirx heraus, denn er fühlte, daß er im Niemandsland umhertappte, weit vor der vordersten Linie seiner Kenntnisse. Fieberhaft durchsuchte er sein leeres Hirn nach Paragraphen für das Verhalten im Raum. Irgendwann muß ich mal was darüber gelesen haben, dachte er. Bescheiden senkte er den Blick und sah, daß Smiga ihm etwas vorsagen wollte — er bewegte dabei nur die Lippen. Pirx begriff und wiederholte laut, bevor ihm der Sinn der Worte klar wurde: „Ich würde mich ihnen vorstellen.“

Das Auditorium brüllte wie ein Mann. Eselswiese kämpfte eine Sekunde mit sich, lachte dann auch, wurde aber gleich wieder ernst.

„Kadett, Sie kommen morgen mit dem Navigationsbuch zu mir. Kadett Boerst!“

Pirx setzte sich auf den Stuhl, als sei der aus noch nicht völlig erstarrtem Glas. Er nahm es Smiga nicht einmal sehr übel — so war er eben, er ließ sich keine Gelegenheit entgehen. Von dem, was Boerst sagte, hörte er kein Wort — er zeichnete Kurven auf der Tabelle, und Eselswiese kommentierte die Antworten des Elektronenkalkulators auf seine Art, so daß der Antwortende den Faden verlor. Die Vorschrift ließ die Hilfe eines Kalkulators zu, Eselswiese hatte in dieser Sache jedoch seine eigene Auffassung. „Der Kalkulator ist auch nur ein Mensch“, pflegte er zu sagen. „Er kann entzweigehen.“ Pirx konnte ihm das nicht einmal übelnehmen, er nahm nie etwas übel. Fast nie. Fünf Minuten später weilte er in Gedanken schon wieder ganz woanders, er stand in der Dyerhoffstraße vor einem Schaufenster und sah sich Gaspistolen an, die nicht nur für Gaspatronen, sondern auch für scharfe Munition oder Blindpatronen geeignet waren. Eine Pistole mit hundert Schuß kostete sechs Kronen Pirx war nicht mehr anwesend, er war in der Dyerhoffstraße und starrte ins Schaufenster

Als das Klingelzeichen ertönte, verließ er ruhig und gemessen den Saal, nicht lärmend und stampfend, wie der erste beste. Schließlich waren sie keine Kinder! Nahezu die Hälfte bewegte sich in die Messe — es gab zwar nichts zu essen um diese Zeit, aber es gab etwas zu sehen: die neue Serviererin, von der es hieß, sie sei schön. Pirx ging langsam zwischen den Glasschränken hindurch, die mit Sterngloben vollgestellt waren, und mit jedem Schritt bröckelte ein Stück von der Hoffnung ab, daß sich das Zweikronenstück in der Tasche anfinden könnte. Unten, auf der letzten Stufe, wußte er, daß dort noch nie ein Geldstück gewesen war.

Am Ausgang standen Boerst, Payartz und Smiga. Payartz war ein halbes Jahr sein Tischnachbar gewesen, im Kosmodäsie-Unterricht. Er hatte ihm alle Atlanten mit Tusche beschmiert.

„Du hast morgen deinen Versuchsflug“, sagte Boerst.

„In Ordnung“, erwiderte Pirx phlegmatisch. So leicht ließ er sich nicht foppen.

„Du glaubst es nicht? Lies!“ Boerst klopfte mit dem Finger an die Scheibe des Aushanges.

Pirx wollte weitergehen, aber sein Kopf schien sich von selbst zu drehen. Nur drei Namen waren auf der Liste, und ganz oben, tatsächlich, da stand es: Kadett Pirx. Unübersehbar!

Einen Augenblick verschwamm alles um ihn herum. Dann hörte er wie aus der Ferne seine Stimme: „Na und? Ich hab doch gesagt: in Ordnung.“

Er ging an ihnen vorüber und lenkte seine Schritte durch die kleine, von Blumenbeeten gesäumte Allee. In diesem Jahr wuchs dort eine Menge Vergißmeinnicht, man hatte sie sinnigerweise in Form einer landenden Rakete gepflanzt. Pirx sah nichts von alledem, weder die Blumenrabatten, die Stege und die Vergißmeinnicht noch den Chef, der eilig aus dem Seitenflügel des Instituts trat. Um ein Haar wäre Pirx im Portal mit ihm zusammengestoßen. Er salutierte.

„Hallo, Pirx!“ sagte Eselswiese. „Sie fliegen morgen. Ich wünsche Ihnen einen guten Start! Vielleicht haben Sie Glück, Kadett, und begegnen denen von den anderen Planeten!“

Das Internat, hinter hohen Trauerweiden, lag am anderen Ende des Parks an einem Teich. Sein Seitenflügel, von Steinsäulen gestützt, ragte über dem Wasser auf. Irgend jemand hatte das Gerücht aufgebracht, daß die Säulen vom Mond stammten. Das war natürlich ein Hirngespinst, aber schon die ersten Schüler hatten voller Ehrfurcht ihre Initialen und Daten in den Stein geritzt. Auch Pirx’ Name stand dort irgendwo, er hatte ihn vor vier Jahren mit großem Eifer eingraviert.

In seinem Zimmer — es war so klein, daß er es mit niemandem zu teilen brauchte — zögerte er ein wenig. Sollte er den Schrank öffnen oder nicht? Er wußte genau, wo die alte Hose lag. Man durfte eigentlich kein Zivilzeug haben, vielleicht hatte er sie gerade deshalb aufgehoben. Im Grunde hatte sie für ihn keinen Wert. Er kniff die Augen zu, kauerte vor dem Schrank nieder, steckte die Hand durch die offene Tür und befühlte die Tasche. Na bitte — er hatte es doch gewußt. Sie war leer.

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