Die Stimme erklang tonlos aus dem noch erhobenen linken Ellbogen. »Jor Jor«, sagte es.
Nach einem Moment identifizierte Orr diese barsoomsche Doppelsilbe als seinen eigenen Namen. »Ja, ich bin Orr«, sagte er leicht betreten.
»Bitte gerechtfertigte Unterbrechung entschuldigen. Sie sind zu iahklu’ fähiger Mensch, wie schon früher festgestellt. Das bekümmert selbst.«
»Ich glaube — ich verstehe nicht —«
»Auch wir waren verschiedentlich verstört. Vorstellungen kreuzen sich im Nebel. Wahrnehmung ist schwierig. Vulkane spucken Feuer. Hilfe wird angeboten: ablehnbar. Schlangengiftserum wird nicht für alle verschrieben. Bevor Sie Anweisungen in falsche Richtung folgen, können Kräfte zur Unterstützung gerufen werden in unmittelbar folgender Weise: Er’ perrehnne!«
»Er’ perrehnne« , wiederholte Orr automatisch und konzentrierte sich ganz darauf, zu verstehen, was ihm der Außerirdische sagen wollte.
»Wenn gewünscht. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Selbst ist Universum. Bitte Unterbrechung, Kreuzung im Nebel verzeihen.« Der Außerirdische machte, obwohl er weder Hals noch Taille besaß, die Andeutung einer Verbeugung und entfernte sich riesig und grünlich über der Masse der grauen Gesichter. Orr blieb stehen und sah ihm nach, bis Haber sagte: »George!«
»Was?« Er betrachtete verwirrt das Zimmer, den Schreibtisch, das Fenster.
»Was, zum Teufel, haben Sie gemacht?«
»Nichts«, sagte Orr. Er saß immer noch auf der Couch und hatte das Haar voller Elektroden. Haber hatte den AUS-Knopf des Verstärkers gedrückt, war vor die Couch getreten und betrachtete zuerst Orr und dann den EEG-Monitor.
Er machte die Maschine auf und prüfte den Ausdruck darin, den Schreibgeräte auf einer Papierrolle festgehalten hatten. »Ich dachte, ich hätte den Monitor falsch gelesen«, sagte er und gab ein eigentümliches Lachen von sich, eine sehr abgespeckte Version seines üblichen fröhlichen Gebrülls. »Hier gehen merkwürdige Dinge in Ihrer Großhirnrinde vor sich, dabei habe ich gar nichts mit dem Verstärker in die Großhirnrinde eingespeist, ich hatte gerade mit einer schwachen Stimulation der Brücke begonnen, nichts Bestimmtes … Was ist das … Herrgott, das müssen hundertfünfzig mV sein.« Er drehte sich unvermittelt zu Orr um. »Was haben Sie gedacht? Rekonstruieren Sie es.«
Ein extremer Widerwille, der zum Gefühl einer Bedrohung, einer Gefahr anwuchs, überkam Orr.
»Ich dachte — ich habe über die Außerirdischen nachgedacht.«
»Die Aldebaraner? Und?«
»Ich dachte nur an einen, den ich auf dem Weg hierher auf der Straße gesehen habe.«
»Und das erinnerte Sie bewußt oder unterbewußt an die Euthanasie, deren Ausführung Sie Zeuge wurden. Richtig? Okay. Das könnte die komische Sache hier unten in den Emotionszentren erklären, die der Verstärker empfangen und verstärkt hat. Das müssen Sie doch gespürt haben — etwas Besonderes, Ungewöhnliches, das sich in Ihrem Geist abgespielt hat?«
»Nein«, sagte Orr aufrichtig. Ihm war es nicht ungewöhnlich vorgekommen.
»Okay. Also hören Sie, falls meine Reaktion Sie beunruhigt hat, sollten Sie wissen, daß ich den Verstärker schon hundertmal an mein eigenes Gehirn angeschlossen habe, und an Laborsubjekte, alles in allem sogar rund fünfundvierzig verschiedene Subjekte. Er wird Ihnen so wenig ein Leid zufügen wie denen. Aber diese Daten sind höchst ungewöhnlich für ein erwachsenes Subjekt, darum wollte ich mich nur bei Ihnen vergewissern, ob Sie etwas subjektiv gespürt haben.«
Haber wollte sich selbst beruhigen, nicht Orr; aber das spielte keine Rolle. Beruhigungen beeindruckten Orr nicht mehr.
»Okay. Zweiter Versuch.« Haber schaltete das EEG wieder ein und näherte sich dem EIN-Schalter des Verstärkers. Orr biß die Zähne zusammen und rechnete mit Chaos und Nacht.
Aber die kamen nicht. Und er befand sich auch nicht in der Innenstadt und redete mit einer zwei Meter siebzig großen Schildkröte. Er blieb auf der bequemen Couch sitzen und betrachtete den dunstigen, graublauen Kegel des St. Helen vor dem Fenster. Und so heimlich, still und leise wie ein Dieb in der Nacht überkam ihn ein Gefühl des Wohlbehagens, eine Gewißheit, daß alles gut war, daß er sich mittendrin befand. Selbst ist Universum. Man würde nicht zulassen, daß er in Isolation geriet, daß er strandete. Er war wieder da, wo er hingehörte. Er verspürte eine große Ruhe und die absolute Gewißheit, wo er sich befand und wo sich alles andere befand. Dieses Gefühl erschien ihm nicht ekstatisch oder mystisch, sondern einfach nur normal. So hatte er sich meistens gefühlt, außer in Krisenzeiten oder unter Schmerzen; es war die Stimmung seiner Kindheit und der besten und denkwürdigsten Stunden seiner Jugend und Reife; es war sein natürlicher Daseinsmodus. In den vergangenen Jahren hatte er ihn verloren, Stück für Stück, aber fast gänzlich, ohne zu merken, daß er ihn verloren hatte. Vor vier Jahren in diesem Monat, vor vier Jahren im April, war etwas geschehen, durch das er dieses Gleichgewicht eine Weile ganz verloren hatte; und in letzter Zeit hatten ihn die Medikamente, die er einnahm, die Träume, die er träumte, die unablässigen Sprünge von einer Lebenserinnerung zur nächsten, die Verschlechterung der Lebensqualität, je mehr Haber versuchte, sie zu verbessern, hatte ihn das alles noch mehr vom rechten Weg abgebracht. Und jetzt war er auf einmal wieder da, wo er hingehörte.
Er wußte aber auch, daß er das nicht allein bewerkstelligt hatte.
»Hat der Verstärker das gemacht?« fragte er laut.
»Was gemacht?« fragte Haber, der sich wieder um die Maschine herumbeugte und den EEG-Monitor betrachtete.
»Oh … ich weiß nicht.«
»Er macht überhaupt nichts, wie Sie es verstehen«, antwortete Haber mit einer Spur Gereiztheit. In solchen Augenblicken konnte man Haber fast mögen, wenn er keine Rolle spielte, keine Reaktionen heuchelte, und ganz und gar darin aufging, was er aus den schnellen und subtilen Reaktionen seiner Maschinen lernen konnte. »Er verstärkt nur das, was Ihr eigenes Gehirn im Augenblick macht, indem er selektiv die Aktivität steigert, und Ihr Gehirn macht gerade absolut nichts Interessantes … Da.« Er notierte sich hastig etwas, ging wieder zum Verstärker, lehnte sich zurück und betrachtete die tanzenden Linien auf dem kleinen Monitor. Er trennte drei Linien, die wie eine ausgesehen hatte, indem er an Schaltern drehte, und vereinte sie erneut. Orr unterbrach ihn nicht noch einmal. »Machen Sie die Augen zu«, sagte er einmal schroff. »Drehen Sie die Augäpfel aufwärts. Gut. Lassen Sie sie zu und stellen Sie sich etwas vor — einen roten Würfel. Gut …«
Als er schließlich die Maschinen abschaltete und die Elektroden löste, ließ die Gleichmut, die Orr empfand, im Gegensatz zu mit Drogen oder Alkohol induzierten Stimmungen, nicht nach.
»Dr. Haber«, sagte er ohne Umschweife und ohne Schüchternheit, »ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine wirkungsvollen Träume benutzen.«
»Hm?« sagte Haber, der sich im Geiste immer noch mit Orrs Gehirn beschäftigte, nicht mit Orr selbst.
»Ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine Träume benutzen.«
»Benutzen?«
»Benutzen.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Haber. Er hatte sich aufgerichtet und überragte Orr, der immer noch saß. Er war grau, groß, breitschultrig, lockenbärtig, seine Brust gewölbt und die Stirn gerunzelt. Dein Gott ist ein eifersüchtiger Gott. »Es tut mir leid, George, aber Sie sind nicht in der Position, so etwas zu sagen.«
Orrs Götter kannten weder Namen noch Neid, verlangten weder Anbetung noch Gehorsam.
»Und doch sage ich es«, antwortete er sanftmütig.
Haber sah auf ihn herab, sah ihn einen Moment wirklich an, und durchschaute ihn. Er schien zu erschrecken wie ein Mann, der einen Gazevorhang zur Seite schieben möchte und feststellen muß, daß es sich um eine Tür aus Granit handelt. Er durchquerte das Zimmer. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Jetzt stand Orr auf und streckte sich ein wenig.
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