Orr wurde ganz mulmig, aber er wußte nicht, warum. »Wieso das?« fragte er.
»Prinzipiell, um eine Aufzeichnung Ihrer normalen Gehirnströme im Wachzustand zu bekommen, wenn sie verstärkt werden. Ich habe zwar bei der ersten Sitzung eine vollständige Analyse durchgeführt, aber das war, bevor der Verstärker etwas anderes machen konnte als den Rhythmus aufzugreifen, den Sie in dem Moment ausgesandt haben. Jetzt kann ich ihn benutzen, um bestimmte individuelle Charakteristiken Ihrer Gehirnaktivität spezieller anzuregen, besonders diesen Peak-Effekt Ihres Ammonshorns. Danach kann ich sie mit Ihren REM-Schlaf-Mustern und den Mustern anderer Gehirne vergleichen, normaler wie abnormaler. Ich versuche herausfinden, wie Sie ticken, George, damit ich erfahren kann, was Ihre Träume wirkungsvoll macht.«
»Wieso das?« wiederholte George.
»Wieso das? Sind Sie denn nicht gerade deswegen hier?«
»Ich bin hier, damit ich geheilt werde. Damit ich lerne, nicht wirkungsvoll zu träumen.«
»Wenn es ein einfaches Eins-zwei-drei-Heilmittel gäbe, wären Sie dann hierher ins Institut geschickt worden, zu EFMEG — zu mir?«
»Und werden Sie das auch tun?«
Orr barg den Kopf in den Händen und sagte nichts.
»Ich kann Ihnen erst zeigen, wie Sie aufhören können, wenn ich herausgefunden habe, was Sie machen, George.«
»Aber wenn Sie es herausfinden, werden Sie mir dann zeigen, wie ich aufhören kann?«
Haber wippte auf den Absätzen hin und her. »Warum haben Sie solche Angst vor sich selbst, George?«
»Habe ich nicht«, sagte Orr. Seine Hände waren schweißnaß. »Ich habe Angst davor —« Aber seine Angst war so groß, daß er es nicht einmal aussprechen wollte.
»Davor, etwas zu verändern, wie Sie sich ausdrücken. Okay. Ich weiß. Das haben wir oft genug besprochen. Warum, George? Diese Frage müssen Sie sich stellen. Was ist falsch daran, etwas zu verändern? Also ich frage mich, ob diese Ihre selbstverleugnende, austarierte Persönlichkeit die Ursache dafür ist, daß Sie alles so defensiv sehen. Bitte versuchen Sie einmal für mich, sich selbst kritisch unter die Lupe zu nehmen und Ihren Standpunkt objektiv von außen zu sehen. Sie haben Angst, Ihr Gleichgewicht zu verlieren. Aber Veränderung muß Sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen; schließlich ist auch das Leben kein statisches Objekt. Es ist ein Vorgang. Stillstand gibt es nicht. Intellektuell wissen Sie das, aber emotional wehren Sie sich dagegen. Nichts bleibt von einem Augenblick zum nächsten gleich, man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Leben — Evolution — das ganze Universum mitsamt Raum/Zeit — Materie/Energie — die Existenz selbst — besteht im wesentlichen aus Veränderung. «
»Das ist ein Aspekt davon«, sagte Orr. »Der andere ist Stillstand.«
»Wenn sich nichts mehr verändert, dann haben wir es mit dem Endergebnis der Entropie zu tun, dem Wärmetod des Universums. Je mehr Dinge sich bewegen, interagieren, zusammenprallen, sich verändern, desto weniger Gleichgewicht gibt es — und desto mehr Leben. Ich bin für das Leben, George. Das Leben selbst ist ein großes Glücksspiel, ein Glücksspiel gegen jede Chance! Sie können nicht versuchen, sicher zu leben, weil es so etwas wie Sicherheit gar nicht gibt. Also strecken Sie den Kopf aus Ihrem Panzer heraus und leben Sie waghalsig ! Es kommt nicht auf den Weg an, sondern auf das Ziel. Sie haben Angst davor, zu akzeptieren, daß wir beide in ein wirklich großes Experiment verwickelt sind, Sie und ich. Wir sind kurz davor, zum Wohle der gesamten Menschheit eine ganz neue Kraft zu entdecken und zu beherrschen, ein vollkommen neues Feld der anti-entropischen Energie, der Lebenskraft, des Willens zu handeln, zu verändern!«
»Das stimmt alles. Aber es ist —«
»Was, George?« Er gab sich jetzt väterlich und geduldig; und Orr zwang sich, fortzufahren, wohl wissend, daß es keinen Sinn hatte.
»Wir sind in der Welt, nicht dagegen. Es funktioniert nicht, wenn man versucht, außerhalb der Dinge zu stehen und sie auf diese Weise zu manipulieren. Es funktioniert einfach nicht, es ist gegen das Leben. Es gibt einen Weg, aber man muß ihm folgen. Die Welt ist , ganz egal, wie sie unserer Meinung nach sein sollte. Man muß mit dem Strom schwimmen. Man muß sie sein lassen.«
Haber ging in dem Zimmer auf und ab und blieb vor dem großen Fenster stehen, das ein Panorama nordwärts des gleichmütigen und inaktiven Mount St. Helen einrahmte. Er nickte mehrmals. »Ich verstehe«, sagte er mit dem Rücken zu Orr. »Ich verstehe voll und ganz. Aber lassen Sie es mich einmal so ausdrücken, George, vielleicht verstehen Sie dann, worauf ich hinaus will. Sie sind allein im Dschungel, im Mato Grosso, und finden eine Eingeborenenfrau auf dem Weg, die nach einem Schlangenbiß im Sterben liegt. Sie haben Serum in Ihrem Rucksack, jede Menge, genug, um Tausende Schlangenbisse zu heilen. Geben Sie es ihr nicht, weil es ›der Lauf der Welt‹ ist, weil man es ›sein lassen‹ muß?«
»Das käme darauf an«, sagte Orr.
»Käme worauf an?«
»Na ja … ich weiß auch nicht. Wenn Reinkarnation existiert, dann verweigert man ihr möglicherweise ein besseres Leben und verdammt sie zu einem elenden. Vielleicht heilt man sie, und sie geht nach Hause und ermordet sechs Menschen in ihrem Dorf. Ich weiß, Sie würden ihr das Serum geben, weil Sie es haben und sie Ihnen leid tut. Aber Sie wissen nicht, ob das, was Sie tun, gut oder böse oder beides ist …«
»Okay! Zugegeben! Ich weiß, was ein Schlangengiftserum bewirkt, aber ich weiß nicht, was ich bewirke — Okay, unter diesen Voraussetzungen kaufe ich das gern. Und sage: Was spielt das schon für eine Rolle? Ich gebe unumwunden zu, daß ich in fünfundachtzig Prozent der Fälle nicht die geringste Ahnung habe, was ich mit Ihrem verflixten schrägen Gehirn anstelle, und Sie auch nicht, aber wir machen es — also können wir jetzt weitermachen?« Sein viriler, jovialer Schwung war überwältigend; er lachte, und auch Orr konnte ein klägliches Lächeln nicht unterdrücken.
Aber während ihm die Elektroden angelegt wurden, unternahm er einen letzten Versuch, mit Haber zu kommunizieren. »Ich habe auf dem Weg hierher eine Bürgerfestnahme und Euthanasie gesehen«, sagte er.
»Weswegen?«
»Eugenik. Krebs.«
Haber nickte wachsam. »Kein Wunder sind Sie deprimiert. Sie haben die Anwendung kontrollierter Gewalt zum Wohle der Gemeinschaft noch nicht rückhaltlos akzeptiert; vielleicht werden Sie das nie. Wir haben es hier mit einer harten Welt zu tun, George. Einer realistischen Welt. Aber wie schon gesagt, das Leben kann nicht sicher sein. Diese Gesellschaft ist hart und wird jedes Jahr härter: die Zukunft wird es rechtfertigen. Wir brauchen Gesundheit. Wir haben einfach keinen Platz für die Unheilbaren, die genetisch Geschädigten, die die Spezies schädigen; wir haben keine Zeit für vergebliches, sinnloses Leiden.« Er sagte es mit einer Begeisterung, die hohler als sonst klang; Orr fragte sich, wie sehr Haber diese Welt gefiel, die er selbst so unerschrocken geschaffen hatte. »Jetzt bleiben Sie so sitzen, ich möchte aber nicht, daß Sie aus reiner Gewohnheit einschlafen. Okay, prima. Vielleicht langweilen Sie sich. Ich möchte, daß Sie eine Weile nur so dasitzen. Halten Sie die Augen offen, denken Sie an was Sie wollen. Ich mache mich hier noch an Babys Eingeweiden zu schaffen. Also, es geht los: Bingo.« Er drückte den weißen EIN-Knopf in dem Paneel rechts vom Verstärker am Kopfende der Couch.
Ein vorübergehendes außerirdisches Wesen rempelte Orr im Gedränge der Allee aus Versehen an; es hob den linken Ellbogen, um sich zu entschuldigen, und Orr murmelte: »Entschuldigung.« Es blieb stehen, versperrte ihm halb den Weg; und auch er blieb stehen und betrachtete beeindruckt und erschrocken die gleichmütige, zwei Meter siebzig große, grünlich gepanzerte Gestalt. Es sah so grotesk aus, daß es fast schon komisch wirkte; wie eine Meeresschildkröte, und doch besaß es, wie eine Meeresschildkröte, eine seltsame, erhabene Schönheit, eine verklärtere Schönheit als alles, das im Sonnenlicht hauste oder auf Erden wandelte.
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