Im Inneren war es kühl und recht dunkel. Ein Pfeiler der Rampe formte eine Wand, eine hohe, kahle Fläche aus Beton, die der Wand einer unterseeischen Höhle glich. Aus den halbdunklen Gründen von Schatten, klobigem Mobiliar, verblichenen Gemälden und auf antik getrimmten Spinnrädern, die mittlerweile freilich selbst echte Antiquitäten geworden, wenn auch noch genauso nutzlos waren, aus diesen unerforschlichen Abgründen herrenlosen Tinnefs tauchte jetzt eine hünenhafte Gestalt auf, die langsam vorwärts zu schweben schien, lautlos und reptilienhaft: Der Besitzer war ein Außerirdischer.
Er hob den angewinkelten linken Ellbogen. »Guten Tag«, sagte er. »Sie wünschen ein Objekt?«
»Danke. Ich sehe mich nur um.«
»Bitte setzen Sie diese Aktivität fort«, sagte der Besitzer. Er zog sich ein kleines Stück in die Schatten zurück, wo er bewegungslos verharrte. Orr betrachtete das Spiel des Lichts auf ein paar zerschlissenen alten Pfauenfedern, entdeckte einen Heimkinoprojektor aus den 1950er Jahren, ein blauweißes Sake-Geschirr, einen Stapel alter Mad-Hefte, für die ein stolzer Preis verlangt wurde. Er hob einen soliden Stahlhammer hoch und bewunderte dessen Balance; es war ein sorgfältig hergestelltes Werkzeug, etwas Gutes. »Ist dies Ihre eigene Wahl?« erkundigte er sich bei dem Besitzer und fragte sich, was die Außerirdischen wohl an diesem Treibgut der fetten Jahre der amerikanischen Geschichte faszinieren mochte.
»Was kommt, ist akzeptabel«, antwortete der Außerirdische.
Ein kongenialer Standpunkt. »Ich frage mich, ob Sie mir etwas erklären könnten. Was bedeutet in Ihrer Sprache das Wort iahklu’ ?«
Der Besitzer trat langsam wieder vor und tastete sich mit seinem breiten, panzerartigen Schutzanzug vorsichtig an zerbrechlichen Gegenständen vorbei.
»Nicht kommunizierbar. Sprache für Kommunikation mit Individual-Personen enthält nicht andere Formen von Beziehungen. Jor Jor.« Die rechte Hand, eine große, grünliche, flossenartige Extremität, wurde langsam und auf womöglich zaghafte Weise ausgestreckt. »Tiua’k Ennbe Ennbe.«
Orr schüttelte ihm die Hand. Der Besitzer verharrte reglos und betrachtete ihn offenbar, obwohl man in dem dunkel getönten, von Dämpfen erfüllten Kopfhelm keine Augen erkennen konnte. Wenn es denn ein Helm war. Gab es in diesem grünen Panzer, diesem mächtigen Schutzanzug, überhaupt eine substantielle Form? Er wußte es nicht. Aber er fühlte sich in Gegenwart von Tiua’k Ennbe Ennbe rundum wohl.
»Ich nehme nicht an«, sagte er und folgte damit wieder einer Eingebung, »daß Sie jemals jemanden namens Lelache gekannt haben?«
»Lelache. Nein. Suchen Sie Lelache.«
»Ich habe Lelache verloren.«
»Kreuzungen im Nebel«, stellte der Außerirdische fest.
»Das kommt etwa hin«, sagte Orr. Er nahm eine weiße, etwa fünf Zentimeter hohe Büste von Franz Schubert, wahrscheinlich das Geschenk einer Klavierlehrerin an einen Schüler, von einem überfüllten Tisch. Auf den Sockel hatte der Schüler geschrieben: »Was, ich mir Sorgen machen?« Schuberts Gesichts sah sanftmütig und geduldig aus, ein kleiner Buddha mit Brille. »Wieviel dafür?« fragte Orr.
»Fünf neue Cent«, antwortete Tiua’k Ennbe Ennbe.
Orr gab ihm eine VöBu-Münze.
»Gibt es eine Möglichkeit, iahklu’ zu kontrollieren, damit es das tut … was es tun sollte?«
Der Außerirdische nahm die Münze und entschwebte majestätisch zu einer verchromten Registrierkasse, die Orr ebenfalls für eine käufliche Antiquität gehalten hatte. Er gab die Summe mit einem Klingeln in die Registrierkasse ein und blieb eine Weile reglos stehen.
»Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer«, sagte er. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Er verstummte wieder und schien offenbar nicht zufrieden zu sein mit diesem Versuch, die Kommunikationskluft zu überwinden. Er blieb eine halbe Minute reglos stehen, dann ging er zum Schaufenster und wählte mit exakten, steifen, sorgfältig bemessenen Bewegungen eine der dort ausgelegten alten Schallplatten und brachte sie Orr. Es war eine Platte der Beatles: »With a Little Help From My Friends«.
»Geschenk«, sagte er. »Ist es akzeptabel?«
»Ja«, sagte Orr und nahm die Platte. »Danke — herzlichen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich bin Ihnen dankbar.«
»Vergnügen«, sagte der Außerirdische. Zwar blieben die mechanisch erzeugte Stimme tonlos und der Panzer ungerührt, aber Orr war sicher, daß sich Tiua’k Ennbe Ennbe tatsächlich freute; er selbst fühlte sich gerührt.
»Ich kann sie auf dem Gerät des Hausmeisters abspielen, der besitzt noch einen alten Plattenspieler«, sagte er. »Recht herzlichen Dank.« Sie schüttelten einander noch einmal die Hände und er ging hinaus.
Eigentlich, dachte er bei sich, während er Richtung Corbett Avenue ging, ist es nicht überraschend, daß die Außerirdischen auf meiner Seite sind. In gewissem Sinne habe ich sie erfunden. Natürlich habe ich keine Ahnung, in welchem Sinne. Aber sie waren eindeutig nicht da, bis ich geträumt habe, daß sie da sind, bis ich sie sein ließ. Also gibt — und gab es immer — eine Verbindung zwischen uns.
Natürlich (nahmen seine Gedankengänge ebenfalls im Schritttempo ihren Lauf), wenn das stimmt, dann müßte die ganze Welt so, wie sie jetzt ist, auf meiner Seite sein; weil ich auch einen großen Teil davon herbeigeträumt habe. Na ja, sie ist ja auch auf meiner Seite. Das heißt, ich bin ein Teil von ihr. Nicht separat davon. Ich schreite auf dem Boden und der Boden wird von mir beschritten, ich atme die Luft und veränderte sie dadurch, ich bin ganz und gar mit der Welt verbunden.
Nur Haber ist anders, und diese Andersartigkeit nimmt mit jedem Traum zu. Er ist gegen mich: meine Beziehung zu ihm ist negativ. Und der Aspekt der Welt, für den er verantwortlich ist, den ich auf seinen Befehl hin erträumt habe, von dem fühle ich mich entfremdet, ohnmächtig …
Es ist nicht so, daß er böse wäre. Er hat recht, man sollte versuchen, anderen Menschen zu helfen. Aber diese Analogie mit dem Schlangengiftserum war falsch. Er hat davon gesprochen, daß eine Person einer anderen Person mit Schmerzen begegnet. Das ist etwas anderes. Vielleicht war das, was ich im April vor vier Jahren gemacht habe … gerechtfertigt … (Aber sein ganzes Denken scheute wie immer vor dieser verbrannten Stelle zurück.) Man muß einer anderen Person helfen. Aber es ist nicht recht, für eine Unzahl von Menschen Gott zu spielen. Um Gott zu sein, muß man wissen, was man tut. Und um Gutes zu tun, reicht es einfach nicht aus, wenn man der Überzeugung ist, daß man recht hat und die eigenen Motive anständig sind. Man muß … in Kontakt sein. Er ist nicht in Kontakt. Niemand anderes, nicht einmal ein anderes Ding, besitzt für ihn eine eigene Existenz; er sieht die ganze Welt nur als Mittel für seine Zwecke. Es spielt keine Rolle, ob seine Zwecke gut sind; wir haben nur Mittel … Er kann nicht akzeptieren, er kann nicht sein lassen, er kann nicht loslassen. Er ist wahnsinnig … er könnte uns alle mit sich nehmen, ohne Kontakt, wenn er so träumen könnte wie ich. Was soll ich nur tun?
Er erreichte das alte Haus in der Corbett Avenue gerade in dem Moment, als er sich diese Frage stellte.
Er machte zuerst einen Abstecher in den Keller und lieh sich von Mannie Ahrens, dem Hausmeister, dessen altmodischen Plattenspieler aus. Das erforderte, eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Mannie machte stets einen Tee für Orr, weil er wußte, daß Orr nie geraucht hatte und nicht inhalieren konnte, ohne zu Husten. Sie unterhielten sich eine Weile über das Weltgeschehen. Mannie haßte die Sportveranstaltungen; er blieb zu Hause und sah sich jeden Nachmittag die WPZ-Bildungsprogramme für Kinder im Vorschulalter an. »Die Alligatormarionette Dooby Doo, die ist echt ein scharfes Teil«, sagte er. Es kam zu langen Pausen in der Unterhaltung, die die klaffenden Leerstellen in der Textur von Mannies Verstand widerspiegelten, der nach Einnahme unzähliger Chemikalien über Jahre hinweg ein wenig durchlöchert war. Aber in seiner unaufgeräumten Kellerwohnung herrschten Frieden und Gemütlichkeit, und der schwache Cannabistee hatte eine gelinde entspannende Wirkung auf Orr. Schließlich schleppte er den Plattenspieler nach oben und schloß ihn an die freie Wandsteckdose seines kargen Wohnzimmers an. Er legte die Platte auf und verharrte einen Moment mit dem Tonarm über der kreisenden Scheibe. Was wollte er eigentlich?
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