Vor dem Steg befand sich ein Schalter, an dem Fahrkarten verkauft wurden; hinter der Theke saß eine Frau, die sich sichtlich langweilte.
»Du wartest hier«, sagte ich zu Dieterling.
Als ich an den Schalter trat, blickte die Frau auf. Ihre Uniform war zerknittert, und unter den blutunterlaufenen, verschwollenen Augen hatte sie dunkelviolette Schatten.
»Ja?«
»Ich bin ein Freund von Argent Reivich und muss ihn dringend sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich.«
Ich hatte nichts anderes erwartet. »Wann ist er abgefahren?«
Eine näselnde Stimme, verschliffene Konsonanten. »Diese Frage darf ich Ihnen leider nicht beantworten.«
»Nun machen Sie mal halblang, ja?« Ich schwächte die Bemerkung mit einem Lächeln ab, das hoffentlich liebenswürdig genug ausfiel. »Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber die Sache ist wirklich sehr dringend. Ich habe nämlich etwas für ihn — ein wertvolles Familienerbstück aus dem Reivich-Besitz. Kann ich irgendwie noch während der Fahrt Verbindung mit ihm aufnehmen, oder muss ich warten, bis er den Orbit erreicht?«
Die Frau zögerte. Sie konnte mir in diesem Stadium fast keine Informationen geben, ohne gegen ihre Vorschriften zu verstoßen — aber ich wirkte wohl grundehrlich und schien über die Vergesslichkeit meines Freundes aufrichtig bestürzt zu sein. Und ich sah eindeutig wie ein reicher Mann aus.
Sie warf einen Blick auf einen Bildschirm. »Sie können ihm eine Nachricht schicken, dann kann er Sie anrufen, sobald er die Orbitalstation erreicht hat.« Er war also noch nicht eingetroffen, sondern hing irgendwo über mir am Kabel.
»Es ist wohl am besten, ich fahre ihm sofort hinterher«, sagte ich. »Dann braucht er nicht lange im Orbit zu warten. Ich händige ihm den betreffenden Gegenstand aus und komme mit der nächsten Gondel zurück.«
»Das klingt vernünftig.« Sie sah mich an. Vielleicht spürte sie, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, aber sie vertraute ihrem Instinkt nicht so weit, dass sie versucht hätte, sich mir in den Weg zu stellen. »Aber Sie müssen sich beeilen. Die nächste Gondel fährt gleich ab.«
Ich wandte mich dem kabelseitigen Ende des Steges zu und sah eine leere Gondel aus dem Wartungsbereich nach oben gleiten.
»Dann sollten Sie mir rasch eine Fahrkarte ausstellen.«
»Eine Rückfahrkarte, nehme ich an.« Die Frau rieb sich die Augen. »Das macht fünfhundertfünfzig Austral.«
Ich öffnete meine Brieftasche und zog die knisternden Südland-Scheine heraus. »Ein Skandal«, sagte ich. »Wenn man bedenkt, was die Brückenverwaltung tatsächlich an Energie aufwenden muss, um mich in den Orbit zu bringen, dürfte die Fahrt höchstens ein Zehntel kosten. Aber wahrscheinlich schöpft die Kirche Sky’s einen Teil ab.«
»Ich will Ihnen nicht widersprechen, aber Sie sollten sich nicht abfällig über die Kirche äußern. Jedenfalls nicht hier.«
»Ja, das ist mir bekannt. Aber Sie gehören nicht dazu, oder?«
»Nein«, sagte sie und gab mir das Wechselgeld in kleineren Scheinen heraus. »Ich arbeite hier nur.«
Die Haussmann-Kultisten hatten die Brücke vor etwa zehn Jahren übernommen, nachdem sie sich mit Erfolg eingeredet hatten, dass Sky genau an dieser Stelle gekreuzigt worden sei. Haussmanns Jünger hatten eines Abends das Gebäude gestürmt, bevor irgendjemand wusste, was eigentlich gespielt wurde. Sie behaupteten, überall im Terminal Kanister mit ihrem Virus versteckt zu haben, die angeblich mit Sprengladungen versehen waren, und drohten, sie beim ersten Versuch einer Zwangsräumung zu zünden. Wäre tatsächlich so viel von dem Virus in der Brücke gewesen, wie die Kultisten behaupteten, dann hätte es der Wind über die Hälfte der Halbinsel verteilt. Vielleicht war auch alles nur ein Bluff, aber niemand wollte das Risiko einer Zwangsbekehrung für Millionen von Unbeteiligten auf sich nehmen. Also blieben die Kultisten im Besitz der Brücke. Der Brückenverwaltung wurde gestattet, den Betrieb fortzusetzen, auch wenn das bedeutete, dass die Belegschaft ständig geimpft werden musste, um nicht mit Virusresten infiziert zu werden. Angesichts der Nebenwirkungen der Anti-Virus-Therapie war die Brücke nicht gerade der beliebteste Arbeitsplatz auf der Halbinsel — und die ständigen Chorgesänge der Kultisten kamen noch erschwerend hinzu.
Sie reichte mir das Ticket.
»Hoffentlich schaffe ich es noch rechtzeitig in den Orbit.«
»Die letzte Gondel ist erst vor einer Stunde abgefahren. Falls Ihr Freund die genommen hat…« Ihr Zögern verriet, dass das ›falls‹ ohne Bedeutung war. »Dann haben Sie gute Chancen, ihn bei Ihrer Ankunft noch in der Orbitalstation anzutreffen.«
»Ich hoffe nur, er weiß die ganze Aktion auch gebührend zu schätzen.«
Sie hätte fast gelächelt, gab aber auf halbem Wege auf. Es war wohl doch zu anstrengend.
»Er ist sicher ganz hingerissen.«
Ich steckte das Ticket in die Tasche und bedankte mich — die Frau sah so elend aus, sie tat mir unwillkürlich Leid, weil sie hier arbeiten musste — und ging zu Dieterling zurück. Er stützte sich auf die niedrige Glaswand, die den Verbindungssteg seitlich abschloss, und schaute auf die Kultisten hinab. Sein Blick war ruhig, voller Gleichmut, aber doch wachsam. Ich musste an unseren Ausflug in den Dschungel denken, an den Hamadryaden-Angriff, bei dem er mir das Leben gerettet hatte. Auch damals hatte er diese unbeteiligte Miene aufgesetzt: ein Mann in einer Schachpartie gegen einen hoffnungslos unterlegenen Gegner.
»Und?«, fragte er flüsternd, als ich in Hörweite war.
»Er hat schon eine Gondel genommen.«
»Wann?«
»Vor etwa einer Stunde. Ich habe mir eben eine Fahrkarte gekauft. Geh du jetzt an den Schalter, aber lass niemanden merken, dass wir zusammen reisen.«
»Vielleicht sollte ich lieber nicht mitkommen, Bruder.«
»Es wird schon nichts passieren.« Ich sprach noch leiser. »Zwischen hier und dem Ausgang in der Orbitalstation gibt es keine Ausreisekontrolle. Niemand wird dich verhaften, wenn du nur hinauf und wieder herunter fährst.«
»Du hast leicht reden, Tanner.«
»Mag sein, aber ich versichere dir, du hast nichts zu befürchten.«
Dieterling schüttelte den Kopf. »Schon möglich, trotzdem hat es nicht viel Sinn, wenn wir gemeinsam reisen; wir sollten nicht einmal zusammen in einer Gondel sein. Wer weiß, wie scharf Reivich das Terminal überwachen lässt?«
Ich wollte widersprechen, aber im Grunde wusste ich, dass er Recht hatte. Dieterling ging es wie Cahuella. Er konnte Sky’s Edge nicht verlassen, ohne Gefahr zu laufen, als Kriegsverbrecher verhaftet zu werden. Sie waren beide systemweit in den Datenbanken erfasst, und auf ihre Ergreifung war eine saftige Prämie ausgesetzt — nur war Cahuella schon tot.
»Na schön«, sagte ich. »Vermutlich spricht noch etwas dafür, dass du hier bleibst. Nachdem ich selbst für einige Zeit — mindestens drei Tage — nicht im Reptilienhaus sein kann, brauche ich einen kompetenten Mann, der zu Hause nach dem Rechten sieht.«
»Bist du sicher, dass du alleine mit Reivich fertig wirst?«
Ich zuckte die Achseln. »Ein einziger Schuss genügt, Miguel.«
»Und dafür bist du der richtige Mann.« Ich sah ihm die Erleichterung an. »Also gut, ich fahre noch heute Abend ins Reptilienhaus zurück. Und ich werde jede Nachrichtensendung verschlingen.«
»Ich werde mich bemühen, dich nicht zu enttäuschen. Drück mir die Daumen.«
»Versprochen.« Dieterling schüttelte mir die Hand. »Sei vorsichtig, Tanner. Nur, weil keine Prämie auf dich ausgesetzt ist, kannst du hinterher nicht einfach weggehen, ohne den Leuten einiges zu erklären. Du musst dir auch überlegen, wie du die Pistole wieder los wirst.« — Ich nickte.
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