»Tanners Ankunft hatte nicht zufällig etwas mit Ihrer Entscheidung zu tun?«, fragte ich.
Reivich fand meinen Einwurf offenbar komisch; sein Lächeln vertiefte sich ein wenig. Schon bald, dachte ich, würden wir alle sein echtes Lächeln zu sehen bekommen, das Grinsen des blanken Totenschädels. Viel Zeit blieb ihm sicher nicht mehr.
»Tanner hat mir die Entscheidung um einiges leichter gemacht«, sagte Reivich. »Mehr Einfluss auf meine Situation billige ich ihm nicht zu.«
»Wo ist er?«, fragte Chanterelle.
»Er ist hier«, sagte die Jammergestalt im Sessel. »Er ist schon seit mehr als einem Tag hier — in Refugium. Aber wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«
»Sie sind sich nicht begegnet!« Ich schüttelte den Kopf. »Was, zum Teufel, hat er dann seit seiner Ankunft getrieben? Und was ist mit der Frau, die bei ihm ist?«
»Tanner hat meinen Einfluss unterschätzt«, erklärte Reivich. »Nicht nur hier in Refugium, sondern überall im Umkreis von Yellowstone. Bei Ihnen war es genauso, nicht wahr?«
»Sprechen wir nicht von mir. Sprechen wir von Tanner. Er ist ein viel interessanterer Fall.«
Reivichs Finger strichen über den Rand der Decke. Die andere Hand — vorausgesetzt, es gab sie überhaupt — blieb ganz darunter verborgen. Ich bemühte mich, diesen Anblick mit dem Bild des jungen Adeligen zur Deckung zu bringen, den ich die ganze Zeit verfolgt hatte, aber die beiden schienen nichts gemeinsam zu haben. Die Maschine hatte Reivich sogar seinen Sky’s Edge-Akzent geraubt.
»Tanner kam nach Refugium, um mich zu töten«, sagte er. »Aber in erster Linie wollte er Sie aus den Schatten locken.«
»Und Sie meinen, das wüsste ich nicht?«
»Um es anders auszudrücken, ich finde es erstaunlich, dass Sie dennoch gekommen sind.«
»Ich bin mit Tanner noch nicht fertig.«
»Und was heißt das?«
»Ich kann nicht zulassen, dass er Sie tötet, nicht einmal, wenn es gar nicht beabsichtigt wäre. Sie haben den Tod nicht verdient. Sie haben aus Rache gehandelt — sie haben sich töricht verhalten —, aber Sie waren niemals niederträchtig.«
Wieder sank der Kopf nach vorne, diesmal in stummer Anerkennung meiner letzten Worte. »Hätte Cahuella nicht versucht, meinen Trupp in einen Hinterhalt zu locken, dann wäre Gitta noch am Leben. Cahuella hätte noch Schlimmeres verdient.« Das Gesicht mit den leeren Augenhöhlen wandte sich mir zu, als würde Reivich durch irgendeinen Reflex gezwungen, denjenigen ›anzuschauen‹, mit dem er gerade sprach, obwohl ihm das Bild zweifellos durch eine im Sessel verborgene Kamera übermittelt wurde. »Aber Sie sind natürlich Cahuella, nicht wahr? Oder geben sie sich noch immer für jemand anderen aus?«
»Ich gebe mich nicht für jemand anderen aus. Aber ich bin auch nicht Cahuella. Nicht mehr. Cahuella starb an dem Tag, als er Tanners Erinnerungen stahl. Was übrig blieb, ist… eine andere Person. Eine Person, die bis dahin nicht existierte.«
Die Brauen über den leeren Augenhöhlen gingen in die Höhe. »Ein besserer Mensch?«
»Gitta hat mir einmal eine Frage gestellt. Wie lange müsste man leben; wie viel Gutes müsste man tun, um ein Verbrechen zu sühnen, das man in jüngeren Jahren begangen hatte? Damals fand ich die Frage sehr merkwürdig, aber heute begreife ich sie. Ich glaube, sie wusste Bescheid. Sie wusste genau, wer Cahuella war; was er getan hatte. Ich kann ihre Frage nicht beantworten, auch jetzt noch nicht. Aber ich denke, ich werde es herausfinden.«
Reivich war nicht beeindruckt. »Und das ist der Grund, weshalb Sie mit Tanner noch nicht fertig sind?«
»Nein«, sagte ich. »Es geht auch um die Frau, die ihn begleitet. Sie heißt Amelia und gehört dem Eisbettelorden an, auch wenn sie in einer anderen Identität unterwegs sein sollte. Ich glaube, Tanner wird sie töten, sobald er keine Verwendung mehr für sie hat.«
»Sie bringen sich selbst in Gefahr, um sie zu retten? Wie heldenhaft.«
»Das hat nichts mit Heldentum zu tun. Es ist nur… Menschlichkeit.« Das Wort klang mir völlig fremd in den Ohren, aber ich schämte mich nicht, es auszusprechen. »Glauben Sie nicht, dass dieser Ort davon etwas mehr vertragen könnte?«
»Sie würden ihn also töten — obwohl Sie seine Erinnerungen mit sich herumtragen? Kommt das einem Selbstmord nicht sehr nahe?«
»Um die moralischen Fragen kümmere ich mich, wenn ich das Blut aufgewischt habe.«
»Sie sehen die Lage mit bewundernswerter Klarheit«, sagte Reivich. »Das macht alles, was jetzt kommt, noch interessanter.«
Ich erstarrte. »Wovon sprechen Sie?«
»Ich sagte Ihnen doch, dass Tanner hier ist. Das war wörtlich gemeint. Er ist hier. Er genießt auf Anweisung von mir bis zu Ihrer Ankunft unsere Gastfreundschaft.«
Ein schwarzes Rechteck teilte die Schatten hinter Reivichs Rücken, und heraus trat ein Mann, der mir zum Verwechseln ähnlich sah.
Wieder juckte es mich in den Fingern; der Soldat in mir wollte nach einem Todeswerkzeug greifen. Aber es war nichts zur Hand, außerdem war mir allen großen Worten zum Trotz vollkommen klar, dass ich eines nicht tun konnte: ich war nicht fähig, Tanner Mirabel eiskalt abzuknallen. Das wäre, als würde ich mich selbst erschießen.
Hinter Tanner trat Schwester Amelia von den Eisbettlern aus dem Dunkel ins goldene Licht. Sie trug nicht länger die Tracht der Eisbettler — sondern zweckmäßig lässige Kleidung —, aber ich erkannte sie sofort. Ihren Schneeflockenanhänger trug sie um den Hals.
Tanner trat vor, bis er dicht hinter Reivichs Sessel stand. In seinem dunklen, fast bis zum Boden reichenden Mantel war er größer, als ich erwartet hatte — er übertraf mich um zwei bis drei Zentimeter — und er hielt sich auch anders: Großspurigkeit war nur eines der vielen Elemente, in denen sich seine Körpersprache von der meinen unterschied, obwohl wir uns äußerlich so ähnlich waren. Wir sahen nicht gerade wie Zwillinge aus, aber wir hätten Brüder sein können oder auch ein und derselbe Mann bei unterschiedlicher Beleuchtung. Durch einen anderen Schatteneinfall wurden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stärker betont. So bemerkte ich in Tanners Gesicht einen grausamen Zug, der mir bei mir selbst nie aufgefallen war, aber vielleicht hatte ich auch nur nie im richtigen Moment in den Spiegel gesehen.
Amelia sprach als Erste. »Was geht hier vor? Ich verstehe gar nichts mehr.«
»Gute Frage«, sagte Tanner und legte seine behandschuhte Hand auf die hohe, barock verschnörkelte Lehne von Reivichs Sessel. »Sehr gute Frage sogar.« Er beugte sich vor und schaute von oben in das blinde Gesicht des Mannes, den er töten wollte. »Wenn Sie Lust haben, darauf zu antworten, mein Hübscher, dann lassen Sie sich nicht aufhalten.«
»Sie wissen also, wer ich bin?«, fragte Reivich.
»Klar. Sie sind offenbar auf die schnelle und unangenehme Variante losgegangen. Lassen Sie mich raten. Ausgedehnte neurale, zelluläre und genetische Schäden. Die Dummköpfe hier haben Sie wahrscheinlich mit Nanomaschinen abgepuffert, aber das ist, als wollte man ein einstürzendes Gebäude mit Strohhalmen stützen. So wie die Dinge liegen, bleiben Ihnen meiner Schätzung nach noch ein paar Stunden, wahrscheinlich nicht einmal so viel. Habe ich Recht?«
»Ins Schwarze getroffen«, sagte Reivich. »Hoffentlich tröstet Sie das ein wenig.«
»Wofür brauche ich Trost?« Tanner strich jetzt mit den Fingern über Reivichs Kopf wie über die Erhebungen eines alten Globus.
»Weil Sie zu spät gekommen sind, um mich zu töten.«
»Ich könnte mich schadlos halten.«
»Durchaus. Aber was hätten Sie davon? Sie könnten natürlich meinen Körper zerstören, aber dafür würde ich Ihnen noch mit meinem letzten Atemzug danken. Alles, was ich bin — was ich jemals wusste oder empfand —, ist bereits für alle Ewigkeit konserviert.«
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