Einer der Servomaten trat mit maschinentypischer Lautlosigkeit vor und drehte den Sessel um.
Der Anblick traf uns völlig unerwartet.
Das war nicht möglich …
Reivich sah aus wie ein Leichnam; ein Kadaver, der nur von Stromstößen animiert wurde wie eine Marionette. Er sah nicht aus wie ein lebender Mensch, er sah überhaupt nicht aus wie ein Wesen, das von Rechts wegen sprechen oder den Mund zu einem Lächeln verziehen durfte.
Er erinnerte mich an eine weniger gesunde Ausgabe von Marco Ferris. Wir konnten nur seinen Kopf und seine Fingerspitzen sehen. Der Rest war unter einer dicken Steppdecke verborgen, unter der sich viele Leitungen zu einem kompakten Lebenserhaltungsgerät schlängelten, das an einer Armlehne befestigt war, einer kleineren Ausgabe des Aggregats, mit dem ich Gittas Körper auf dem Rückweg zum Reptilienhaus ›am Leben‹ erhalten hatte. Der Kopf war fleischlos wie ein Totenschädel; wo er keine violetten Blutergüsse hatte, war die Haut schwarz verfärbt. Die Augäpfel hatte man entfernt; aus den dunklen Höhlen unter den Lidern führten dünne Kabel zu demselben Lebenserhaltungssystem. Nur ein paar Haarsträhnen zierten seinen Hinterkopf wie die wenigen Bäume, die bei einem Wirbelsturm immer stehen bleiben. Der Unterkiefer hing kraftlos herunter, und die Zunge lag wie eine schwarze Schnecke in seinem Mund.
Er hob die Hand. Es war, bis auf ein paar Leberflecken, die Hand eines sehr viel jüngeren Mannes.
»Ich habe Sie offenbar erschreckt«, sagte Reivich.
Jetzt begriff ich, dass die Stimme nicht aus seinem Mund kam, sondern aus dem Lebenserhaltungsgerät. Sie klang immer noch schwach. Vermutlich strengte ihn sogar das Subvokalisieren an.
»Sie haben es getan«, sagte Quirrenbach und trat näher an den Mann heran, der immer noch sein Auftraggeber war. »Sie haben sich scannen lassen.«
»Vielleicht habe ich vergangene Nacht auch nur schlecht — geschlafen«, sagte Reivich. Seine Stimme klang wie ein Windhauch. »Alles in allem halte ich Ihre Version für wahrscheinlicher.«
»Was ist geschehen?«, fragte ich. »Ist etwas schief gegangen?«
»Gar nichts ist schief gegangen.«
»Sie dürften nicht so aussehen«, sagte Quirrenbach. »Sie kommen mir vor, als stünden Sie an der Schwelle des Todes.«
»Vielleicht ist es so.«
»Ist der Scan missglückt?«, fragte Zebra.
»Nein, Taryn, wie ich höre, war der Scan ein voller Erfolg. Meine Neuralstruktur konnte vollständig erfasst werden.«
»Sie hatten es zu eilig«, sagte Quirrenbach. »So ist es doch, nicht wahr? Sie konnten die vielen medizinischen Tests nicht abwarten, und das ist dabei herausgekommen.«
Reivich nickte kaum merklich. »Menschen wie ich und Tanner — und wie Sie«, sagte er und sah mich an, »haben keine Nanomaschinen im Blut. Kaum jemand auf Sky’s Edge hat sie in seinen Zellen, mit Ausnahme einer Handvoll Menschen, die sich eine Behandlung durch die Ultras leisten konnten. Und auch wer das Geld dafür hatte, wählte oft eine andere Art der Langlebigkeitstherapie.«
»Wir hatten andere Probleme«, sagte ich.
»Natürlich. Deshalb verzichteten wir auf solche Luxusgüter. Nur hätte ich die Nanomaschinen leider gebraucht, um meine Zellen vor den Auswirkungen des Scans zu schützen.«
»Nach alter Art? Brutal und schnell?«, fragte ich.
»Die beste Methode, wenn man den Theoretikern glauben will. Alles andere ist nur ein Kompromiss. Es ist ganz einfach: wenn man seine Seele — und nicht nur ein verschwommenes Abbild davon — in die Maschine bringen will, dann muss man dafür sterben. Oder zumindest Verletzungen in Kauf nehmen, die normalerweise tödlich wären.«
»Und warum haben Sie sich nicht mit Nanomaschinen geschützt?«, fragte Quirrenbach.
»Die Zeit reichte nicht aus für eine richtige Behandlung. Medizinische Nanomaschinen müssen sorgfältig auf den Träger abgestimmt und langsam in den Körper eingeschleust werden. Sonst kommt es zu einem massiven toxischen Schock, und man stirbt, bevor einem die Maschinen helfen können.«
»Wenn Sie Sylvestes Anlage verwendet haben…«, begann ich vorsichtig. Man hatte mir von diesen Experimenten erzählt —, »dann dürften Sie jetzt nicht einmal mehr atmen.«
»Es war ein neueres Verfahren, eine Weiterentwicklung von Sylvestes ersten Experimenten. Aber Sie haben Recht — trotz aller technischen Fortschritte müsste ich eigentlich schon tot sein. Allerdings hat man mir so viele Breitband-Maschinen verabreicht, dass ich den Scan — zumindest für eine Weile — überleben kann.« Er deutete auf das Lebenserhaltungsgerät und die drei Servomaten. »Refugium stellt diese Maschinen zur Verfügung. Sie bemühen sich, die Zellschäden in Grenzen zu halten und ausgefeiltere Nanomaschinen-Varianten einzuschleusen, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass sie es nur tun, um sich keine Vorwürfe machen zu müssen.«
»Sie glauben, Sie werden bald sterben?«, fragte ich.
»Ich spüre es in allen Knochen.«
Ich versuchte mir vorzustellen, was er erlebt haben musste; der qualvolle Moment der Neuralabbildung, als würde man vom hellsten Scheinwerfer erfasst, den man sich denken konnte; ein Licht, das unter die Haut ging, bis ins Mark drang, ihn für diesen einen durchbohrenden Moment zu einer Rauchglasskulptur seiner selbst machte.
Die schnellen Analysestrahlen, auf zelluläre Auflösung gebündelt, waren nur wenig schneller als die synaptischen Impulse durch sein Gehirn gerast, den Cortex-Botschaften kaum voraus, die das sich ausbreitende Chaos verkündeten. Als der Scan seinen Hirnstamm erreichte, hatte dieser Bereich noch keine Information über die Zerstörung der darüber liegenden Bewusstseinsschichten erhalten. Wegen dieses kleinen Vorsprungs konnte die Gesamtaufnahme des Gehirns bis auf eine leichte, durch die Grenzen der räumlich-zeitlichen Auflösungskapazität des Verfahrens bedingte Unscharfe völlig normal ausfallen. Der Scan war beendet, bevor Reivich erkannte, dass er begonnen hatte — und wenn danach der Schock sein Bewusstsein erreichte und ganze Neural-Routinen ins Koma stürzte, spielte es keine Rolle mehr.
Die Abbildung war erfolgt.
Selbst die Schäden hätten keine Rolle spielen dürfen; mit Nanomaschinen konnte jede Verletzung fast gleichzeitig mit ihrer Entstehung geheilt werden. Wie bei einem Gebäude, das unter Beschuss stand: die Explosionen brachten die Steine ins Wanken, aber im Innern behob ein Trupp von emsigen Maurern in rasendem Tempo jeden Schaden, bevor die nächste Granate einschlug…
Doch diesen Weg war Reivich nicht gegangen.
Reivich hatte den Tod gewählt; er hatte sich dafür entschieden, jede Zelle und das umliegende Hirngewebe den verheerenden Kräften auszusetzen, weil er wusste, dass ungeachtet aller Folgen für seinen Körper sein Wesen erhalten bliebe, eingefangen für die Ewigkeit und — endlich — in einer Form konserviert, die nicht durch eine Bagatelle wie Mord oder Krieg ausgelöscht werden konnte.
Ein Teil von ihm hatte es geschafft.
Aber nicht der Teil, den wir jetzt vor uns sahen.
»Wenn Sie sterben wollen«, sagte ich, »wenn Sie den Tod als unvermeidlich akzeptieren — und Sie müssen vor dem Scan gewusst haben, was auf Sie zukam —, warum sind Sie dann nicht gleich beim Scannen gestorben?«
»Das bin ich ja«, sagte Reivich. »Nach mindestens einem Dutzend medizinischer Kriterien, die in einem anderen System vor jedem Gericht Bestand hätten. Aber ich wusste auch, dass Refugiums Maschinen imstande waren, mich, wenn auch nur vorübergehend, ins Leben zurückzuholen.«
»Sie hätten auch warten können«, sagte Quirrenbach. »Binnen weniger Tage hätte man Nanomaschinen herstellen können, die genau auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren.«
Reivichs knochige Schultern bewegten sich unter der Decke: ein Achselzucken. »Aber die Nanomaschinen hätten nur funktioniert, wenn ich Abstriche bei der Genauigkeit des Scans hingenommen hätte. Das wäre nicht ich gewesen.«
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