Tanner trat zurück. Sein Ton war jetzt ganz sachlich. »Der Scan war erfolgreich?«
»Ganz und gar. Während wir uns hier unterhalten, läuft irgendwo in den weit verstreuten Prozessoren von Refugium eine Kopie von mir. Backups wurden bereits an fünf andere Habitats geschickt, deren Namen selbst mir nicht bekannt sind. Auch wenn Sie in Refugium eine Atombombe zündeten, hätte das nicht die geringste Wirkung.«
Mir wurde klar, dass die Version von Reivich, mit der ich noch vor einer Stunde gesprochen hatte, die gescannte Kopie gewesen war. Die beiden spielten sich gegenseitig die Bälle zu wie zwei Verschwörer. Reivich hatte Recht. Tanner konnte tun, was immer er wollte, es hätte nichts zu bedeuten. Vielleicht war das Tanner sogar egal, denn immerhin hatte er mich hierher gelockt und damit sein wichtigstes Ziel erreicht.
»Sie würden sterben«, sagte Tanner. »Und Sie wollen mir einreden, das sei Ihnen völlig egal?«
»Glauben Sie, was Sie wollen, Tanner, wenn ich ehrlich bin, berührt mich das nicht weiter.«
»Wer sind Sie?«, fragte Amelia. Ratlosigkeit sprach aus ihren Zügen. Ich begriff, dass Tanner ihr bis zu diesem Moment seine wahren Motive verheimlicht hatte, um sich ihr Vertrauen zu bewahren. »Warum sprechen Sie ständig vom Töten?«
»Weil das unser Beruf ist«, sagte ich. »Wir haben Sie beide belogen. Der Unterschied ist nur, dass ich niemals vorhatte, sie umzubringen.«
Tanner wollte nach ihr greifen. Aber er konnte sich nicht von Reivich losreißen und war deshalb nicht schnell genug. Amelia huschte flink über den Zickzack-Fußboden zu mir herüber. Verwirrung malte sich in ihren Zügen. »Erklären Sie mir doch bitte, was hier vorgeht!«
»Keine Zeit«, sagte ich. »Sie müssen uns vertrauen. Es tut mir Leid, dass ich Sie belogen habe — aber ich war zu diesem Zeitpunkt nicht ich selbst.«
Chanterelle schaltete sich ein. »Sie sollten ihm glauben. Er hat sein Leben riskiert, um hierher zu kommen, und das in erster Linie, um Sie zu retten.«
»Sie sagt die Wahrheit«, bestätigte Zebra.
Ich sah Tanner fest an. Er stand immer noch hinter Reivichs Sessel. Die drei Servomaten befanden sich in Wartestellung und schienen nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging.
»Sie stehen allein, Tanner«, sagte ich. »Ich fürchte, jetzt hat Ihre Stunde geschlagen.« Ich wandte mich an die anderen. »Wir können ihn überwältigen, wenn ihr mir folgt. Ich habe seine Erinnerungen. Ich kann jede seiner Reaktionen vorhersehen.«
Quirrenbach und Zebra stellten sich neben mich, Chanterelle postierte sich schräg dahinter, und Amelia wich noch weiter zurück.
»Vorsichtig«, flüsterte ich. »Vielleicht hat er im Gegensatz zu uns doch eine Waffe mit nach Refugium geschmuggelt.«
Ich trat zwei Schritte auf Reivichs Thron zu.
Unter der Decke bewegte sich etwas. Die bisher unsichtbare zweite Hand kam zum Vorschein. Sie hielt eine kleine, edelsteinbesetzte Pistole. Reivich brachte sie erstaunlich schnell in Anschlag — seine Gebrechlichkeit war wie weggeblasen — und feuerte drei Schüsse ab. Die Projektile rasten an mir vorbei und hinterließen silberne Nachbilder auf meiner Netzhaut.
Quirrenbach, Zebra und Chanterelle gingen zu Boden.
»Schafft sie weg«, krächzte Reivich.
Die drei Servomaten erwachten zum Leben, glitten mit unheimlicher Lautlosigkeit an mir vorüber, knieten nieder, hoben die Körper auf und trugen sie — mit Trophäen beladene Gespenster, die in ihren dunklen Wald zurückkehrten — aus dem Lichtkegel.
»Sie sind ein Stück Dreck«, knirschte ich.
Reivich schob die Hand unter die Decke zurück. »Sie sind nicht tot«, sagte er. »Ich habe sie nur ruhig gestellt.«
»Wieso?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Tanner.
»Sie störten die Symmetrie. Jetzt stehen Sie beide sich allein gegenüber. Verstehen Sie? So findet die Jagd ihren perfekten Abschluss.« Er neigte den Schädel in meine Richtung. »Sie müssen zugeben, das Bild ist von verführerischer Schlichtheit.«
»Was wollen Sie?«, fragte Tanner.
»Ich habe bereits, was ich wollte. Sie beide in einem Raum zusammen. Das hat es schon lange nicht mehr gegeben, nicht wahr?«
»Nicht lange genug«, sagte ich. »Sie wissen mehr, als Sie bisher zugegeben hatten?«
»Um es anders auszudrücken: Die Informationen, die ich gesammelt hatte, bevor ich Sky’s Edge verließ, waren, gelinde gesagt, faszinierend.«
»Vielleicht wissen Sie sogar mehr als ich«, sagte ich.
Reivichs Waffe kam wieder unter der Decke hervor. Diesmal war sie auf Tanner gerichtet. Obwohl Reivich die Mündung nur ungefähr in seine Richtung hielt, erreichte er, was er wollte. Tanner trat zurück, bis er vom Sessel etwa den gleichen Abstand hatte wie ich. Dann sagte Reivich: »Warum erzählen Sie mir nicht beide, woran sie sich erinnern? Dann kann ich die Lücken füllen.« Er nickte Tanner zu. »Sie können anfangen.«
»Und womit soll ich beginnen?«
»Mit dem Tod von Cahuellas Frau, den Sie ja verschuldet haben.«
Seltsamerweise fühlte ich mich genötigt, ihn zu verteidigen. »Er hat sie doch nicht absichtlich getötet, Sie Scheißkerl. Er wollte ihr das Leben retten.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Tanner verächtlich. »Ich habe nur getan, was ich tun musste.«
»Leider war es ein Fehlschuss«, sagte Reivich.
Tanner schien das überhört zu haben. Er hatte angefangen zu berichten, was er noch wusste. »Vielleicht war es ein Fehlschuss; vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wollte ich sie lieber töten, als zusehen zu müssen, wie sie weiterlebte, ohne mir zu gehören.«
»Nein«, sagte ich. »So war es nicht. Sie wollten sie retten…«
Dabei war ich gar nicht sicher, wie viel ich tatsächlich wusste.
Tanner fuhr fort. »Hinterher war mir sofort klar, dass Gitta nicht mehr zu helfen war. Aber Cahuella konnte ich retten. Seine Verletzungen waren nicht so schwer. Deshalb erhielt ich sie beide am Leben und brachte sie ins Reptilienhaus zurück.«
Ich nickte unwillkürlich. Die Fahrt durch den Dschungel hatte endlos lange gedauert, und der Stumpf meines abgeschossenen Fußes hatte mir wahre Höllenqualen bereitet. Aber das ist nicht mir widerfahren…es sind Tanners Erlebnisse, ich weiß nur aus seinen Erinnerungen davon…
»Bei meiner Ankunft wurde ich von Cahuellas Leuten in Empfang genommen. Sie nahmen mir die beiden Verletzten ab und taten für Gitta, was sie konnten, obwohl sie wussten, dass es sinnlos war. Cahuella lag mehrere Tage im Koma, kam aber irgendwann wieder zu sich. Doch er hatte kaum Erinnerungen an das Geschehen bewahrt.«
Ich erinnerte mich, wie ich nach langem, traumlosem Schlaf von Fieber geschüttelt erwacht war und mit Sicherheit nur eines wusste: ich war aufgespießt worden. Und ich erinnerte mich, dass ich sonst nichts mehr gewusst hatte. Als ich nach Tanner rief, sagte man mir, er sei verletzt, aber am Leben. Niemand erwähnte Gitta.
»Dann kam Tanner mich besuchen«, nahm ich den Faden auf. »Ich sah, dass er einen Fuß verloren hatte, und begriff, dass uns etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Aber ich wusste nicht viel mehr, als dass wir nach Norden gefahren waren, um Reivichs Trupp in einen Hinterhalt zu locken.«
»Sie fragten nach Gitta. Sie hatten nicht vergessen, dass sie dabei gewesen war.«
Wie hinter dicken Gazeschichten tauchten in meinem Gedächtnis Bruchstücke jenes längst vergangenen Gespräches auf.
»Und Sie legten ein volles Geständnis ab. Sie hätten lügen — hätten eine Geschichte erfinden können, die Sie schützte. Sie hätten behaupten können, Reivichs Killer hätte sie getötet — aber das taten Sie nicht. Sie erzählten mir alles genau so, wie es geschehen war.«
»Was hätte es für einen Sinn gehabt zu lügen?«, fragte Tanner. »Irgendwann wäre Ihr Gedächtnis ja doch wiedergekommen.«
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