Doch er war schneller und warf mich zu Boden. Ich schlug so heftig mit dem Rücken auf, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Die Pistole stieß er versehentlich mit dem Fuß in das Halbdunkel zwischen dem goldenen Lichtkegel und den Schatten dahinter.
Tanner griff nach dem Messer und zog es aus Reivichs Schädel. Auf der monomolekularen Klinge schillerten Prismenmuster in allen Regenbogenfarben wie ein Ölfilm auf einer Wasserpfütze.
Er wird es nicht wagen, das Messer zu werfen, dachte ich. Wenn er nicht trifft, verliert er seine einzige Waffe …
»Sie sind erledigt, Cahuella. Das ist das Ende.«
Er hielt das Messer jetzt in einer Hand, wog es leicht auf der behandschuhten Handfläche. Mit der anderen griff er Reivich ins Gesicht und riss die Optikleitungen aus seinen Augenhöhlen. Jede Leitung zog einen dicken Faden aus gerinnendem Blut hinter sich her.
»Für Sie war es schon vor langer Zeit zu Ende«, sagte ich und trat in seinen Angriffsbereich. Das Messer zeichnete mit chirurgischer Präzision völlig lautlos blitzende Bögen in die Luft.
»Und was bedeutet das für Sie?« Tanner schob Reivich aus dem Sessel. Der magere Leichnam fiel samt seiner Decke zu Boden wie ein Sack Holz.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Jedenfalls bin ich nicht wie Sie.«
Ich versuchte, den Winkel seiner Messerschwünge zu berechnen, indem ich mich auf die einschlägigen Tanner-Erinnerungen konzentrierte, auf seine Erfahrungen im Nahkampf.
Es war unmöglich. Ich konnte nicht den kleinsten Vorteil herausschlagen — und er brauchte seine Erinnerungen nicht erst mühsam auszugraben. Sie waren tief verwurzelt und kamen ihm von selbst zu Hilfe.
Ich machte einen Ausfall, in der Hoffnung, seinen freien Arm erwischen und ihn aus dem Gleichgewicht bringen zu können, bevor er zustieß.
Ich hatte mich verschätzt.
Den Messerstich selbst spürte ich nicht; nur eine Kälte, die durch Mark und Bein ging. Ich wagte nicht, den Blick zu senken, doch aus dem Augenwinkel sah ich den Schnitt auf meiner Brust, wo die Klinge durch die Kleidung ins Fleisch gedrungen war. Die Wunde war nicht tödlich, dafür war sie nicht tief genug — sie ging nicht einmal bis auf die Rippen —, aber das war schieres Glück. Beim nächsten Mal war ich mit Sicherheit fällig.
»Tanner!«
Das war nicht meine Stimme. Amelia rief aus dem Schatten. Sie stand halb im Dunkeln und streckte die Hände nach mir aus.
Natürlich. Für sie war ich immer noch Tanner. Sie hatte keinen anderen Namen für mich.
Sie hatte Reivichs Pistole aufgehoben.
»Werfen Sie sie mir zu!«, rief ich.
Sie gehorchte. Die Pistole fiel zu Boden und schlitterte ein paar Meter weiter. Kleine Edelsteinsplitter spritzten davon.
Ich drehte Tanner den Rücken zu, stürzte mich auf die Waffe, fiel auf die Knie und rutschte weiter, bis ich sie in Reichweite hatte.
Bevor sich meine Finger um den Griff schließen konnten, kam Tanners Messer geflogen und bohrte sich in meine Hand. Mit einem Aufschrei ließ ich die Pistole fallen. Die Messerspitze ragte aus meiner Handfläche wie das Segel einer Jacht.
Tanner lief auf mich zu. Ich hörte seine Schritte in der dumpfen Finsternis. Tränen trübten meinen Blick. Ich hob mit der anderen Hand die Pistole auf und versuchte, auf ihn zu zielen.
Ein Schuss löste sich, ich spürte den leichten Rückstoß, sah das Projektil als verschwommenen Fleck an Tanner vorbei rasen. Ich hatte ihn um etliche Zentimeter verfehlt. Ich zielte von Neuem, zog abermals den Abzug durch.
Doch nichts geschah.
Tanner warf sich gegen mich und stieß zugleich die unbrauchbar gewordene Waffe mit dem Fuß beiseite. Er rang mich nieder und kniete in Siegerpose über mir. Ich versuchte, ihm die Messerspitze in meiner Handfläche ins Gesicht zu stoßen.
Tanner bekam das Handgelenk der durchbohrten Hand zu fassen und lächelte. Jetzt hatte er gewonnen. Er wusste es. Er brauchte nur noch die Klinge heraus zu ziehen und sie gegen mich zu richten.
Aus dem Augenwinkel sah ich Reivichs zusammengesunkenen Leichnam. Der Mund stand offen. Die wenigen Zähne blitzten im goldenen Licht.
Er hatte sich gegen die Zähne geklopft.
Und plötzlich fiel mir wieder ein, was Cahuella den Ultras noch abgekauft hatte: eine Transformation, die mehr umfasste als nur die Augen; eine Jägerhilfe, von der er Tanner Mirabel nie erzählt hatte.
Was nützt es, bei Nacht auf die Jagd zu gehen, wenn man nicht töten kann, was man fängt?
Ich riss den Mund weit auf, weiter, als es die menschliche Anatomie eigentlich erlaubte. Dabei entdeckte ich einen Muskel, von dessen Vorhandensein ich bisher nichts geahnt hatte; einen Muskel, der hoch oben an meinem Gaumen verankert war. In meinem Kiefer knackte etwas, aber ich spürte keinen Schmerz.
Ich legte meinen heilen Arm um Tanners Kopf und drehte sein Gesicht zu mir, während er weiter an dem Messer zerrte, mit dem er glaubte, den Sieg erringen zu können.
Doch dann schaute er mir in den Mund, und in diesem Moment musste er es gesehen haben.
»Sie sind tot«, sagte ich. »Ich hatte mir nämlich nicht nur das Sehvermögen einer Schlange gekauft.«
Ich spürte, wie meine Giftdrüsen in Aktion traten und das Gift durch die mikrofeinen Gänge in meinen ausklappbaren Reißzähnen pressten.
Dann zog ich Tanner an mich, als wollte ich meinen lange vermissten Bruder ein letztes Mal umarmen.
Und schlug die Zähne tief in seinen Hals.
Lange Zeit stand ich nur da und schaute aus dem Fenster.
Die Frau in meinem Büro dachte wohl, ich hätte sie vergessen. Ich konnte ihr Gesicht in dem deckenhohen Spiegel sehen. Sie wartete immer noch auf eine Antwort auf die Frage, die sie mir eben gestellt hatte. Aber ich hatte weder sie noch ihre Frage vergessen. Ich staunte nur, wie etwas, das mir einst so fremd gewesen war, jetzt so vertraut sein konnte.
Die Stadt hatte sich seit meiner Ankunft nicht sehr verändert.
Es musste also an mir liegen.
Der Regen vom Moskitonetz klatschte in harten, schrägen Strichen gegen das Fenster. Angeblich hörte es in Chasm City nie ganz auf zu regnen, und vielleicht stimmte das auch, aber die Aussage machte nicht deutlich, wie viele verschiedene Niederschlagsformen es gab. Manchmal kam der Regen gerade und weich herunter wie ein kühler, reiner Gebirgsschauer. Manchmal, wenn die Dampfsperren um den Abgrund geöffnet wurden und die Druckwellen stoßweise über die Stadt jagten, peitschte er fast waagerecht daher und war so ätzend wie ein Entlaubungsmittel.
»Mister Mirabel…«, sagte sie.
Ich wandte mich vom Fenster ab. »Entschuldigen Sie. Ich war ganz in die Aussicht vertieft. Wo waren wir stehen geblieben?«
»Sie wollten mir von Sky Haussmann erzählen, wie er…«
Ich hatte ihr bereits geschildert, wie Sky meiner Meinung nach sein Versteck verlassen und als Cahuella ein neues Leben angefangen hatte, und viel mehr wollte ich auch nicht preisgeben. Es war schon ungewöhnlich genug, dass ich überhaupt von diesen Dingen sprach — besonders zu einer potenziellen neuen Mitarbeiterin —, aber sie gefiel mir, und sie hatte eine ungewöhnliche Bereitschaft gezeigt, mir zuzuhören. Wir hatten ein paar Pisco Sour getrunken — auch sie kam von Sky’s Edge — und so war uns die Zeit wie im Flug vergangen.
»Nun?«, unterbrach ich sie. »Wie viel von der Geschichte würden Sie glauben?«
»Ich weiß es nicht, Mister Mirabel. Wie wollen Sie das alles erfahren haben, wenn die Frage gestattet ist?«
»Ich lernte Gitta kennen«, sagte ich. »Und sie sagte mir etwas, das mich überzeugte, dass Constanza die Wahrheit sprach.«
»Sie meinen, Gitta hat vor allen anderen herausgefunden, wer Cahuella wirklich war?«
»Ja. Ich halte es gut für möglich, dass sie zufällig Constanzas Aussage gefunden hat. Das führte sie zu Cahuella, obwohl seit Skys vermeintlicher Hinrichtung mindestens zwei Jahrhunderte vergangen waren.«
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