»Und als sie ihn fand?«
»Sie erwartete einen Unmenschen, aber ihre Erwartungen erfüllten sich nicht ganz. Er war nicht mehr der Mann, den Constanza gekannt hatte. Ich glaube, Gitta war bereit, ihn zu hassen, aber sie konnte es nicht.«
»Wieso konnte sie eigentlich so sicher sein, ihn gefunden zu haben?«
»Vermutlich sein Name. Er hatte ihn aus der Legende des Gespensterschiffes übernommen; er konnte die Verbindung zu seiner Vergangenheit nicht gänzlich kappen. Cahuella war der Delphin der Caleuche.«
»Jedenfalls eine interessante Theorie.«
Ich zuckte die Achseln. »Aber mehr wahrscheinlich auch nicht. Glauben Sie mir, wenn Sie länger hier leben, werden sie noch ausgefallenere Geschichten hören.«
Sie war erst vor kurzem auf Yellowstone eingetroffen; sie war wie ich Soldat, aber sie war nicht wegen irgendeines Auftrags auf dem Planeten, sondern auf Grund eines Versehens.
»Wie lange leben Sie schon hier, Mister Mirabel?«
»Seit sechs Jahren«, sagte ich.
Wieder sah ich aus dem Panoramafenster. Die Aussicht auf die Stadt hatte sich nicht sehr verändert, seit ich von Refugium zurückgekommen war. Das Dickicht des Baldachins sah immer noch aus wie ein Querschnitt durch eine Lunge: ein dichtes, schwarzes Knäuel vor dem braunen Hintergrund des Moskitonetzes. Man redete davon, das Netz nächstes Jahr reinigen zu wollen.
»Sechs Jahre, das ist eine lange Zeit.«
»Nicht für mich.«
Bei diesen Worten musste ich daran denken, wie ich in Refugium wieder zu mir gekommen war. Die Wunde, die Tanner mir beigebracht hatte, musste so stark geblutet haben, dass ich das Bewusstsein verlor, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt kaum etwas davon gespürt hatte. Jemand hatte mir die Kleider aufgeschnitten und auf den nahtähnlichen Schnitt, den sein Messer gezogen hatte, eine türkisblaue medizinische Salbe aufgetragen. Ich lag auf einem Bett, und einer der schlanken Servomaten beobachtete mich.
Mein Körper war über und über mit Blutergüssen bedeckt und jeder Atemzug schmerzte. Mein Mund fühlte sich merkwürdig an, als gehörte er nicht mehr zu mir.
»Tanner?«
Das war Amelias Stimme. Gleich darauf trat sie in mein Blickfeld. Wie damals, als ich im Habitat der Eisbettler reanimiert wurde, erschien sie mir wie ein Engel.
»Das ist nicht mein Name«, sagte ich und war überrascht, als meine Stimme ganz normal klang, nur etwas rau vor Erschöpfung. So, wie sich mein Mund anfühlte, hätte ich ihm eine so diffizile Tätigkeit wie Sprechen nicht zugetraut.
»Das habe ich mitbekommen«, sagte Amelia. »Aber es ist der Einzige, unter dem ich Sie kenne, und deshalb werde ich fürs Erste dabei bleiben.«
Ich war zu schwach, um ihr zu widersprechen, und vielleicht wollte ich es auch gar nicht.
»Sie haben mich gerettet«, sagte ich. »Jetzt stehe ich in Ihrer Schuld.«
»Sie haben nicht viel Hilfe gebraucht«, antwortete sie. Der Raum war viel kleiner als der, in dem Reivich umgekommen war, doch das Licht hatte auch hier diesen herbstlich goldenen Ton, und die Wände waren mit den gleichen komplexen mathematischen Symbolen geschmückt wie überall sonst in Refugium. Das Licht spielte über die Schneeflocke, die Amelia um den Hals trug. »Was ist mit Ihnen passiert, Tanner? Was hat Sie befähigt, einen Menschen auf diese Weise zu töten?«
Die Frage klang vorwurfsvoll, nicht aber der Ton, in dem sie gestellt wurde. Ich begriff, dass Amelia nicht beabsichtigte, mir Vorwürfe zu machen. Sie sah offenbar ein, dass ich für die Gräuel meiner Vergangenheit nicht voll verantwortlich war, so wenig, wie ein wacher Mensch verantwortlich ist für die Untaten, die er im Schlaf begeht.
»Der Mann, der ich war«, sagte ich, »war ein Jäger.«
»Der Mann, von dem Sie gesprochen hatten? Dieser Cahuella?«
Ich nickte. »Er hatte sich neben anderen Spezialitäten auch Schlangen-Gene für die Augen einschleusen lassen, um bei nächtlichen Jagdausflügen die gleichen Chancen zu haben wie jedes Tier. Ich dachte, er hätte sich damit zufrieden gegeben. Das war ein Irrtum.«
»Aber das wussten Sie nicht?«
»Erst im letzten Moment. Aber Reivich wusste Bescheid. Er hatte erfahren, dass Cahuella Giftdrüsen hatte und das Gift einem Feind auch verabreichen konnte. Die Ultras müssen es ihm verraten haben.«
»Und er versuchte es Ihnen mitzuteilen?«
Ich nickte, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. »Vielleicht wollte er, dass einer von uns weiterlebte. Ich hoffe nur, er hat die richtige Wahl getroffen.«
»Natürlich hat er das«, sagte Zebra.
Ich drehte mich — unter Schmerzen — um. Sie stand auf der anderen Seite des Bettes. »Reivich hat also die Wahrheit gesagt«, bemerkte ich. »Was die Pistole anging. Er hat euch nur schlafen gelegt.«
»Er war kein schlechter Mensch«, versicherte Zebra. »Er wollte sicher niemandem schaden außer dem Mann, der seine Familie ausgerottet hatte.«
»Aber ich lebe noch. Heißt das, er ist gescheitert?«
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. Das goldene Licht ließ sie förmlich erstrahlen, und ich begehrte sie mit allen Sinnen, auch wenn wir uns gegenseitig immer wieder verraten hatten, auch wenn ich nicht wusste, was die Zukunft bereithielt; auch wenn ich nicht einmal einen Namen hatte, mit dem sie mich ansprechen konnte. »Ich glaube, er hat letztlich bekommen, was er wollte. Jedenfalls zum größten Teil.«
Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie mir etwas verheimlichte. »Was willst du damit andeuten?«
»Du weißt es vermutlich noch nicht«, sagte Zebra. »Aber Reivich hat uns alle belogen.«
»Inwiefern?«
»Sein Scan.« Sie schaute zur Decke. Goldene Glanzlichter betonten ihre Züge. Die Streifen auf der Haut waren immer noch schwach zu erkennen. »Es war ein Fehlschlag. Zu hastige Arbeit. Die Abbildung ist nicht gelungen.«
Ich tat so, als könnte ich es nicht fassen, obwohl ich spürte, dass Zebra die Wahrheit sagte.
»Aber das kann nicht sein. Ich habe doch nach dem Scan mit seiner Kopie gesprochen.«
»Das dachtest du nur. In Wirklichkeit war es wohl nur eine Beta-Simulation, ein Modell von Reivich, darauf programmiert, seine Reaktionen so nachzuahmen, dass du glauben musstest, der Scan sei ein Erfolg gewesen.«
»Aber warum? Warum wollte er unbedingt so tun, als hätte es geklappt?«
»Ich denke, es ging ihm um Tanner«, sagte sie. »Er wollte Tanner das Gefühl geben, alles sei umsonst gewesen; selbst die Zerstörung von Reivichs Körper sei nur eine leere Geste.«
»Aber das war nicht der Fall.«
»Nein. Reivich wäre zwar früher oder später ohnehin gestorben — doch eigentlich hat ihn Tanner getötet.«
»Und Reivich wusste das, nicht wahr? Während wir mit ihm zusammen waren, wusste er die ganze Zeit, dass der Scan missglückt war und dass er sterben würde.«
»Heißt das, er hat gewonnen?«, fragte Zebra. »Oder hat er alles verloren?«
Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr eine Rolle. Tanner, Cahuella, Reivich — sie sind alle tot.«
»Alle?«
»Jedenfalls, so weit es darauf ankommt.«
Als Zebra und Amelia gegangen waren, starrte ich noch eine Ewigkeit lang in das diffuse goldene Licht. Ich war müde; diese überwältigende Müdigkeit, die zu schwer auf einem lastet, als dass man ihr in den Schlaf entkommen könnte. Irgendwann kam der Schlaf dann aber doch. Und mit ihm die Träume. Ich hatte gehofft, davon verschont zu bleiben, aber in den Träumen war ich wieder in dem weißen Raum und spürte die Urangst vor dem, was dort geschehen war; was mir widerfahren war; was ich mir selbst angetan hatte.
Später — viel später — kehrte ich nach Chasm City zurück. Es war eine lange Reise, und ich machte Zwischenstation am Habitat der Eisbettler und setzte Amelia dort ab, damit sie ihre Pflichten wieder aufnehmen konnte. Sie hatte die turbulenten Ereignisse bemerkenswert gut überstanden, und als ich mich erbot, ihr irgendwie zu helfen — ohne so recht zu wissen, wie —, lehnte sie ab und bat mich stattdessen um eine Spende für die Eisbettler, sobald ich mich dazu imstande sähe.
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