Jetzt waren Conway und Seldal nicht mehr Schwimmer in einem beinahe festen Ozean, wie Lioren meinte, sondern Bergarbeiter, die durch einen Tunnel vordrangen, den sie mit sich führten.
„Bei der einen Wand des Spalts stoßen wir auf wachsenden Widerstand und zunehmenden Druck“, meldete Conway. „Das Zellgewebe auf der Seite scheint gleichzeitig gedehnt und zusammengedrückt zu sein. Dort und auch da drüben können Sie sehen, wo die BlützufUhr unterbrochen worden ist. Einige der Blutgefäße, in denen sich das Blut gesammelt hat, sind angeschwollen und andere eingeschrumpft und fast leer. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um einen natürlichen Zustand, und daß in diesem Bereich kein Wundbrand aufgetreten ist, deutet darauf hin, daß die Blutzirkulation zwar stark behindert, aber bislang nicht vollkommen unterbunden wird. Außerdem läßt die organische Anpassung, die hier bereits stattgefunden hat, darauf schließen, daß dieser Zustand schon seit langem besteht.
Um den Grund und die Quelle dieses Zustands herauszufinden, muß ich scannen“, fuhr Conway fort. „Ich werde den Handscanner nur kurz und mit minimaler Durchdringungsstärke einsetzen, und zwar jetzt. Wie fühlt sich der Patient?“
„Fasziniert“, antwortete Hellishomar.
Der Terrestrier stieß ein leises Bellen aus. „Vom Patienten werden keine emotionalen oder zerebralen Auswirkungen gemeldet. Ich werde es noch einmal mit ein bißchen höherer Durchdringungsstärke versuchen.“
Für einige Sekunden erschien Conways Scannerbild auf dem Hauptbildschirm, dann löste es sich wieder auf. Zur eingehenden Betrachtung wurde die Aufzeichnung als Standbild auf einen daneben stehenden Bildschirm übertragen.
„Der Scanner zeigt eine weitere Membran in einer Tiefe von annähernd achtzehn Zentimetern“, setzte Conway seinen Bericht fort. „Sie ist mehr als anderthalb Zentimeter dick, hat eine dichte, faserige Struktur und weist eine konvexe Wölbung auf, die einen kugelförmigen Körper von etwa drei Metern Durchmesser umschließen würde, wenn man sie mit gleicher Krümmung fortsetzte. Die darunter liegende Gewebestruktur ist mir im einzelnen noch nicht klar, sie zeigt jedoch einen deutlichen Unterschied zu denen, auf die wir bisher gestoßen sind. Vielleicht ist dies die Stelle, an der sich der Lappen befindet, der für die telepathischen Fähigkeiten verantwortlich ist. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, die nur durch eine chirurgische Untersuchung und eine Gewebeanalyse auszuschließen sind. Doktor Seldal wird den Einschnitt durchführen und Gewebeproben entnehmen, während ich die Blutung stille.“
Der Hauptbildschirm zeigte eine Großaufnahme von Conways Händen, die wegen der Nähe zur Helmkamera riesengroß und verzerrt aussahen, als sie dem nallajimischen Chefarzt ein Skalpell über den Schnabel stülpten. Dann schob sich ein Zeigefinger vor, um die genaue Stelle und die Ausdehnung des erforderlichen Einschnitts zu bezeichnen.
Als Seldals Hinterkopf und Hals kurz das Operationsfeld verdunkelten, bewegte sich plötzlich ein verschwommener Fleck über den Bildschirm.
„Wie Sie sehen, hat der erste Schnitt die Membran nicht freigelegt, doch die Ränder der Wunde sind durch den dahinter bestehenden Druck so weit auseinandergedrückt worden, daß, wenn wir die Lage nicht entschärfen, indem wir den Schnitt sofort vergrößern, die ernste Gefahr besteht, daß er an beiden Enden aufreißt. Seldal, würden Sie ein bißchen tiefer schneiden und den. Oh, verdammt!“
Es kam, wie Conway es vorhergesehen hatte. Der Schnitt war an beiden Enden aufgerissen, und nun schwebten schwerelose Kügelchen aus Blut aus ihm heraus und verdunkelten das ganze Operationsfeld. Seldal hatte das Skalpell abgelegt, denn jetzt kam sein Schnabel ins Blickfeld, der das Absauggerät packte und es fachmännisch am Schnitt entlang- und in ihm herumbewegte, damit Conway die Blutung finden und stillen konnte. Innerhalb weniger Minuten lag die klaffende Wunde, die jetzt aufgerissene, unebene Ränder hatte und dreimal so lang wie ursprünglich war, wieder frei und enthüllte auf ihrem Boden eine lange, schmale Ellipse, die völlig dunkel war.
„Wir haben eine starke, biegsame und lichtabsorbierende Membran freigelegt und zwei Gewebeproben entnommen“, meldete sich der Diagnostiker wieder zu Wort. „Eine schicken wir Ihnen gerade zur näheren Untersuchung durch den Absaugschlauch nach draußen, doch die Anzeige meines Analysators deutet auf eine organische Substanz hin, die zu dem umliegenden Gewebe überhaupt nicht paßt. Ihre Zellstruktur ist eher für eine Pflanze charakteristisch als für. Was passiert denn jetzt, verdammt noch mal! Wir können spüren, wie sich der Patient bewegt. Er muß sich absolut reglos verhalten! Wir dürften uns eigentlich nicht an einer Stelle befinden, an der wir aus Versehen die Bewegungsmuskulatur stimulieren können. Hellishomar, was ist los?“
Die Worte des Diagnostikers gingen draußen in dem Tumult auf der Station unter, wo die Traktor- und Pressorstrahlenprojektoren optische und akustische Überlastungssignale von sich gaben, während sich die Techniker, die sie bedienten, abmühten, Hellishomars sich krümmenden Körper ruhigzuhalten. Der gewaltige Kopf des Groalterris warf sich von einer Seite zur anderen gegen die unsichtbaren Fesseln, und die Enden des Einschnitts rissen weiter auf und bluteten wieder. Prilicla wurde von einem Gefühlssturm geschüttelt, und alle Beteiligten schrien sich gegenseitig Fragen, Anweisungen oder Warnungen zu.
Doch es war Hellishomar, der sich — plötzlich und mit einem einzigen Wort — erfolgreich über den Lärm hinweg Gehör verschaffte.
„Lioren!“
„Ich bin hier“, meldete sich Lioren, nachdem er schnell auf den abhörsicheren Kanal geschaltet hatte. Doch die Laute, die der Patient von sich gab, wurden vom Translator nicht übersetzt.
„Hellishomar, hören Sie bitte auf, sich zu bewegen“, ermahnte ihn Lioren in eindringlichem Ton. „Sie könnten sich schwer verletzen, vielleicht sogar töten. Und andere auch. Was beunruhigt Sie? Bitte sagen Sie es mir. Haben Sie Schmerzen?“
„Nein“, antwortete Hellishomar.
Dem Patienten näher auseinanderzusetzen, daß er sich selbst umbringen könnte, war nach Liorens Dafürhalten reine Zeitverschwendung; schließlich war die Anwesenheit des Groalterris im Hospital auf den Versuch, genau das zu tun, zurückzuführen. Doch die Mahnung, andere zu gefährden, mußte trotz des inneren Aufruhrs bis zu Hellishomar durchgedrungen sein, denn die Heftigkeit seiner Gegenwehr ließ allmählich nach.
„Bitte, was beunruhigt Sie?“ hakte Lioren noch einmal nach.
Zunächst kam die Antwort langsam, als müßte jedes einzelne Wort erst eine dicke Mauer aus Angst, Scham und Selbstabscheu durchbrechen; doch dann sprudelten die Worte plötzlich in einem fast ununterbrochenen Schwall hervor, der all diese Hindernisse einfach überwand. Während er Hellishomar zuhörte, der ihm sein ganzes Herz ausschüttete, verwandelte sich Liorens anfängliche Verwirrung allmählich in Zorn und dann in Traurigkeit. Nach seiner Meinung war das alles hier vollkommen lächerlich. Wäre er ein Terrestrier gewesen, hätte er inzwischen über die Unwissenheit eines Angehörigen der intelligentesten Spezies, die die Föderation kannte, vor Lachen gebrüllt. Doch wenn Lioren seit seiner Mitarbeit in O'Maras Abteilung etwas gelernt hatte, dann die Tatsache, daß emotionale Qualen die subjektivste aller Erscheinungen darstellten und am schwersten zu lindern waren.
Aber hier hatte er es mit jemandem zu tun, der nach der groalterrischen Vorstellung von der Heilkunst medizinisch ausgebildet worden war. Es handelte sich um einen jungen und möglicherweise geistig zurückgebliebenen Messerheiler, dessen Erfahrung sich auf periphere, an alten Mitgliedern seiner Spezies vorgenommene Operationen beschränkte, und dieser Groalterri war nun zum erstenmal Zeuge eines Eingriffs am Gehirn, und zwar am eigenen. Unter diesen Umständen hielt Lioren Unwissenheit für verzeihlich, sofern sie eine vorübergehende Erscheinung blieb.
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