„Aber dafür wäre eine lange Erläuterung des Problems selbst nötig“, wehrte sich Lioren. „Außerdem müßte ich noch Hintergrundinformationen geben, von denen der größte Teil spekulativ und wahrscheinlich falsch wäre.“
O'Mara hob eine Hand vom Tisch hoch und ließ sie wieder sinken. „Dann lassen Sie sich Zeit“, beruhigte er ihn.
Lioren begann damit, nochmals die seltsame, nach dem Alter aufgespaltene Zivilisation der Groalterri zu beschreiben, ließ sich jedoch keineswegs viel Zeit, weil er anfangs nur Fakten wiederholte, die bereits bekannt waren, und es sich bei O'Mara nicht gerade um einen Terrestrier handelte, der für seine Geduld berühmt war. Er berichtete, daß die Eltern aufgrund der ungeheuren Körpergröße und ungeahnter Fähigkeiten ihre Bevölkerungszahl kontrollierten, ohne deshalb jemanden umzubringen, und ihren Planeten samt der nichtintelligenten Tier- und Pflanzenwelt und den Bodenschätzen in optimalem Zustand hielten, da es sich bei ihnen um eine äußerst langlebige Spezies handelte und Groalter der einzige Planet war, den sie jemals besitzen würden. Auf Groalter war jedes Leben wertvoll, und intelligentes Leben sogar wirklich kostbar. Die Kontrollmechanismen, die Gesetze, die für jeden einzelnen Tag im unglaublich langen Leben eines Groalterris maßgebend sein sollten, wurden von den Eltern den noch nicht erwachsenen Groalterri beigebracht, die sie wiederum an die jüngeren Kleinen bis zu dem Alter weitergaben, in dem sie gerade zu denken und zu sprechen begannen. Diese Gesetze, die das ganze zukünftige Verhalten auf Groalter bestimmten, wurden nicht mit körperlicher Gewalt durchgesetzt, da alles darauf hindeutete, daß es sich bei den Groalterri um eine philosophisch fortschrittliche und gewaltlose Spezies handelte. Die Kleinen wurden, wenn sie noch sehr jung waren, durch gesprochene Sprache und später, wenn sie sich dem Erwachsenenalter näherten, durch Telepathie unterrichtet, und zwar dermaßen gründlich, daß der Vorgang eher einer starken Indoktrination glich. Die Schuldgefühle, die ein Gesetzesbrecher hatte, und die Strafe, die er sich selbst auferlegte, waren so schwer, wie sie nur für denjenigen möglich waren, dem eine Religion in der strengsten und umfassendsten Form eingebleut worden war.
„Diese Theorie wird durch die Tatsache erhärtet, daß Hellishomar mehrmals darauf hingewiesen hat, nicht ein ernsthaftes Verbrechen oder einen Verstoß begangen zu haben, sondern eine schwere Sünde“, fuhr Lioren fort. „Für die Groalterri ist die allerschwerste Sünde die absichtliche und vorzeitige Vernichtung von Leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Unterlassungssünden oder begangene Sünden handelt oder ob das betreffende Leben ganz am Anfang oder kurz vorm Ende gestanden hat. Und wenn die Kleinen und ihre Eltern zutiefst religiös sind, wirft das in meinen Augen zwei weitere Fragen auf.
An was für einen Gott könnte eine Lebensform glauben, die selbst so gut wie unsterblich ist? Und was erhoffen und erwarten sie sich von einem Leben nach dem Tode?“
„Was ich mir erhoffe“, sagte O'Mara, wobei sich die buschigen Striche über den Augen senkten, „ist, daß Sie endlich zur Sache kommen. Wenn ich mir die Zeit dafür zugestehen würde, könnte aus diesem Gespräch eine interessante religiöse Debatte werden, doch bisher kann ich, was Sie betrifft, kein Problem erkennen.“
„Aber es gibt ein Problem“, stellte Lioren klar, „und das hängt sehr eng mit den religiösen Überzeugungen der Groalterri zusammen. Und, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, auch mit mir.“
„Dann erklären Sie das und versuchen Sie, sich dafür weniger Zeit zu lassen“, ermahnte ihn O'Mara.
„Bei sämtlichen Religionen, mit denen ich mich vor kurzem befaßt habe, habe ich festgestellt, daß die jeweiligen Anhänger viele Überzeugungen teilen. Abgesehen von einigen wenigen, die geringfügig kürzer oder länger leben als wir, erfreuen sich alle eines Lebens, das wir als durchschnittlich lang betrachten.“
In den Zeiten vor der Zivilisation, als viele Religionen entstanden und das Denken ihrer Anhänger dahingehend prägten, den Nächsten und sein Eigentum zu achten — eine Einstellung, die die Grundlage jeden zivilisierten Verhaltens bildet — , hatten diese Lebewesen noch einfache Bedürfnisse und Erwartungen. Bis auf einige wenige, die die Macht an sich gerissen hatten, verbrachten sie ein unglückliches Leben, das aus unablässiger Plackerei bestand. Sie wurden von Hunger und Krankheiten geplagt und ständig von einem gewaltsamen und vorzeitigen Tod bedroht, und ihre Lebenserwartung lag weit unter dem heutigen Durchschnitt.
Da war es nur natürlich, daß sie Hoffnungen und Träume hatten und schließlich an Lehren glaubten, die ihnen ein weiteres Leben verhießen und einen Himmel, in dem sie sich nicht zu plagen brauchten, keinen Hunger und keine Schmerzen zu erwarten hatten und keine Trennung von ihren Freunden erdulden mußten, und in dem sie für alle Ewigkeit leben würden.
„Da die erwachsenen Groalterri im Gegensatz dazu praktisch schon unsterblich sind, ist ihr Leben bereits lang genug, so daß eine weitere physikalische Ausdehnung auf ihrer Prioritätenliste nicht besonders weit oben steht“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Wegen ihrer gewaltigen Körpergröße und des Mangels an Beweglichkeit lassen sie ihre Beutetiere durch telepathische Befehle oder dergleichen zu sich kommen, sie müssen sich also nicht damit abmühen, zu arbeiten oder zu jagen. Um sich zu verletzen, sind sie zu groß, und Krankheit und Schmerzen sind ihnen unbekannt, bis sie sich dem Lebensende nähern. Dann bitten sie die jungen Messerheiler, ihnen zu helfen, vor dem Tod, den Hellishomar als ̃̄„Flucht“ oder ̃̄„Zeit zu sterben“ bezeichnet, das Leben noch einmal zu verlängern.
Zuerst hatte ich das für den Fall eines langlebigen Wesens gehalten, das trotz der zunehmenden Schmerzen in den letzten Jahrzehnten vor dem Tod noch länger leben möchte, doch das wäre genau das Verhalten, das man von engstirnigen, selbstsüchtigen Lebewesen erwarten würde, und das sind diese Eltern nicht. Dann bin ich darauf gekommen, daß die letzten Jahre vor dem Tod, die die Kleinen ihrem Schwur gemäß möglichst lange hinziehen müssen, von den Eltern benötigt werden, damit sie so viel Zeit wie möglich haben, sich geistig vorzubereiten und sich dem, was sie in dem Leben nach dem Tode vorzufinden glauben, würdig zu erweisen.
Für den ungeheuren Verstand und die gewaltigen Körper der Groalterri stellt der Himmel vielleicht den Ort und Zustand dar, wo sie nach den Geheimnissen der gesamten Schöpfung suchen und sie schließlich auch entdecken können, und das, was sie sich dabei am meisten ersehnen, ist Beweglichkeit“, fuhr Lioren fort. „Die brauchen sie, um aus den riesigen, organischen Gefängnissen zu entkommen, die ihre Körper sind, und auch von ihrem Planeten, indem sie sterben. Möglicherweise sehnen sie sich danach, frei durch ein Universum zu fliegen, das unendlich groß ist und für ihren gewaltigen Verstand eine intellektuelle Herausforderung darstellt, die ebenfalls grenzenlos ist.“
O'Mara hob erneut eine Hand vom Tisch hoch, doch die Unterbrechung schien eher aus Höflichkeit als aus Ungeduld von ihm gewünscht zu sein. „Eine geistreiche Theorie, Lioren, die der Wahrheit vermutlich sehr nahe kommt“, lobte er ihn. „Allerdings verstehe ich immer noch nicht, wo Ihr Problem liegt.“
„Das Problem liegt in der Absicht, die die Eltern verfolgen, indem sie uns Hellishomar geschickt haben, und darin, wie ich mich später Hellishomar gegenüber verhalten soll“, antwortete Lioren. „Haben sie auf uns eingewirkt, ihn ans Orbit Hospital zu bringen, weil sie gehofft haben, wir könnten bei ihrem jungen Messerheiler vielleicht eine vollständige Heilung erzielen, wie es alle Eltern tun würden, die zutiefst um das Wohlergehen eines ihrer Nachkommen besorgt sind? Oder glauben sie vielmehr, wir seien womöglich nicht in der Lage, die infizierten Wunden zu behandeln, die damals lebensbedrohlich gewesen sind, und erst recht nicht, den Patienten als geistig Zurückgebliebenen zu erkennen? Hoffen sie, daß Hellishomar, der unfähig ist, sich geistig und seelisch weiterzuentwickeln, durch die Behandlung, die ihm hier zuteil wird, und die Wesen, denen er dabei begegnet, eine Erfahrung macht, die er eigenartig und anregend und erfreulich finden wird, bevor er in den unteren Himmel oder in die Vorhölle oder was auch immer kommt, das den wenigen geistig zurückgebliebenen Groalterri vorbehalten ist?
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