„Zur Telepathie durch Berührung kommt es nur bei zwei Gelegenheiten“, klärte Khone ihn auf. „Als Reaktion auf einen Ruf nach Zusammenschluß innerhalb einer Gemeinschaft, wenn eine wirkliche, häufiger jedoch nur eingebildete Gefahr droht, oder zum Zweck der Fortpflanzung. Wie schon erwähnt wurde, kann dieser Notruf emotional äußerst leicht ausgelöst werden. Eine geringfügige Verletzung, ein überraschendes Ereignis, eine plötzliche Veränderung der normalen Umstände oder eine unerwartete Begegnung mit einem Fremden können diesen Mechanismus ungewollt in Gang setzen, woraufhin sich durch das Verflechten der Körperbehaarung und der telepathischen Fühler eine Gruppe bildet. Dieses durch Angst zur Raserei getriebene Gruppenwesen reagiert nun auf die wirkliche oder eingebildete Bedrohung, indem es alles zerstört, was sich in seiner unmittelbaren Nähe befindet und kein Artgenosse ist. Dabei ziehen sich einzelne Mitglieder der Gruppe Verletzungen zu. In solchen Momenten wird es durch den Geisteszustand unmöglich, objektiv zu beurteilen, wie gut oder schlecht die telepathischen Fähigkeiten funktionieren, da das Vermögen, nüchtern zu beobachten oder auch nur zusammenhängende Gedanken zu fassen, durch die Kurzschlußhandlung außer Kraft gesetzt wird.
Ganz bestimmt weiß der Tarlaner aus eigener Erfahrung, daß es bei der geschlechtlichen Vereinigung zwischen den beiden Partnern zu einem ähnlichen, aber sehr viel angenehmeren Aufruhr der Gefühle kommt. Doch in diesem Fall stellt die telepathische Verbindung der Gogleskaner sicher, daß die Beteiligten ihre Empfindungen miteinander teilen und sie doppelt so stark wahrnehmen. Geringfügige Veränderungen oder ein Nachlassen dieser Gefühle wären, falls überhaupt vorhanden, nur schwer festzustellen, und man kann sie sich im nachhinein auch nicht ins Gedächtnis zurückrufen.“
„Der Tarlaner verfügt auf diesem Gebiet über keinerlei Erfahrungen“, merkte Lioren an. „Von den Heilern auf Tarla, die einen Aufstieg in hohe Positionen ihres Berufsstands erwarten, verlangt man, auf derartige emotionale Zerstreuungen zu verzichten.“
„Dem Auszubildenden sei das tiefe Mitgefühl der Gogleskanerin versichert“, sagte Khone. Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Aber die Ärztin wird versuchen, die körperlichen Vorbereitungen und die telepathisch verstärkten emotionalen Reaktionen, die mit dem Geschlechtsakt der Gogleskaner zusammenhängen.“
Sie verstummte, weil jemand anders den Raum betreten hatte. Es handelte sich um eine weibliche DBDG, die das Abzeichen einer Oberschwester trug und einen kleinen Wagen mit einem Essensspender vor sich herschob.
„Entschuldigung für die Störung, die in der Hoffnung, dieses Gespräch wäre bald beendet, so lange wie möglich hinausgeschoben wurde“, sagte die Schwester. „Doch die Hauptmahlzeit der Patientin ist lange überfällig, und die für ihre Pflege verantwortliche Person bekäme harte Worte zu hören, wenn sie zulassen würde, daß eine Patientin verhungert, die sich bereits auf dem Wege der Besserung befindet. Falls der Besucher ebenfalls Hunger hat und bei der Patientin bleiben möchte, kann ihm Essen bereitgestellt werden, das für den Metabolismus der tarlanischen Lebensform vielleicht nicht gerade schmackhaft, so doch geeignet ist.“
„Sehr freundlich“, willigte Lioren ein, dem zum erstenmal zu Bewußtsein kam, wie lange er sich mit Khone bereits unterhalten hatte und wie hungrig er war. „Vielen Dank.“
„Dann sollte das weitere Gespräch so lange aufgeschoben werden, bis das Essen serviert worden ist, und damit eine sittsame Terrestrierin nicht in Verlegenheit gebracht werden kann“, schlug die Oberschwester vor, wobei sie das gedämpfte Bellen von sich gab, das ihre Spezies als ̃̄„Lachen“ bezeichnete.
Als die Oberschwester die beiden verlassen hatte, erinnerte Khone den Tarlaner daran, daß sie mehr als einen Mund besaß und folglich in der Lage war, gleichzeitig zu essen und Fragen zu beantworten. Inzwischen hatte Lioren noch einmal über alles nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, daß die Auskünfte der Gogleskanerin, so interessant sie an sich sein mochten, seine Kenntnisse über eine mögliche Funktionsstörung des organischen Sende- und Empfangsmechanismus der telepathischen Fähigkeiten bei dem Groalterri nicht vergrößern würden. In entschuldigenden und unpersönlichen Worten teilte er der Gogleskanerin mit, daß er die Auskünfte nicht mehr benötige.
„Das ist eine große Erleichterung und kränkt die Gogleskanerin keinesfalls“, stellte Khone dazu fest. „Doch sie steht nach wie vor in der Schuld des Tarlaners. Gibt es noch andere Fragen, deren Beantwortung vielleicht hilfreich wäre?“
Eine ganze Weile starrte Lioren Khone wortlos an und verglich den kleinen, aufgerichteten, eiförmigen Körper einer erwachsenen Gogleskanerin mit dem von dem kleinen Groalterri Hellishomar, dem Messerheiler, der bis auf den letzten Millimeter eine ganze Station ausfüllte, die groß genug war, um ein Ambulanzschiff aufzunehmen, und versuchte, eine erneute höfiche Ablehnung zu formulieren. Doch auf einmal war er so verärgert, enttäuscht und hilflos, daß es ihn große Anstrengung kostete, eine geeignete unpersönliche Formulierung zu finden.
„Es gibt keine weiteren Fragen“, antwortete er schließlich.
„Weitere Fragen sollte es eigentlich immer geben“, widersprach Khone. Die zu Stacheln aufgerichteten Haarbüschel sanken herab, und der Körper sackte auf den Muskelwulst, so daß Lioren die Enttäuschung der Gogleskanerin regelrecht spüren konnte. „Ist das der Fall, weil der ungebildeten Gogleskanerin die Intelligenz fehlt, um diese Fragen zu beantworten, und der Tarlaner jetzt gehen möchte, ohne weitere Zeit zu vergeuden?“
„Nein“, antwortete Lioren in bestimmtem Ton. „Intelligenz sollte nicht mit Bildung verwechselt werden. Der Tarlaner benötigt Fachinformationen, die zu erfahren die Gogleskanerin gar keine Möglichkeit gehabt hat; deshalb ist es nicht Intelligenz, was ihr fehlt. Ganz im Gegenteil. Hat die Ärztin weitere Fragen?“
„Nein“, antwortete Khone prompt. „Die Ärztin hat eine Bemerkung zu machen, zögert aber, weil sie fürchtet, den Tarlaner zu kränken.“
„Er wird der Gogleskanerin ihre Bemerkung nicht übelnehmen“, versicherte Lioren.
Khone richtete sich wieder zu voller Größe auf. „Der Tarlaner hat — wie viele andere vor ihm — bewiesen, daß geteiltes Leid halbes Leid ist, doch in diesem Fall scheint das geteilte Leid nicht gleich groß zu sein. Der Vorfall auf Cromsag, gegen den das Problem mit dem bösen Teufel von Goglesk bedeutungslos erscheint, ist zwar ausführlich geschildert worden, die Auswirkungen, die dieses Ereignis auf die dafür verantwortliche Person hat, jedoch nicht. Viel ist über die verschiedenen Glaubensrichtungen und die Götter — oder möglicherweise den einen Gott — anderer Spezies gesagt worden, aber kein einziges Wort über den eigenen Gott des Tarlaners. Vielleicht ist der Gott von Tarla etwas Besonderes, oder er ist einfach anders und verfügt nicht über das Verständnis und die erbarmungsvolle Gerechtigkeit für die wichtigsten Teile seiner Schöpfung. Erwartet er von seinen Geschöpfen, überhaupt kein Unrecht zu begehen, nicht einmal versehentlich? Die Entschuldigung für das Schweigen des Tarlaners, daß er den Glauben anderer nicht ungerechterweise durch seine umfassenderen Kenntnisse beeinflussen möchte, ist zwar löblich, aber fast ein wenig fade; denn sogar eine ungebildete Gogleskanerin weiß, daß ein Glaube nicht durch eine logische Beweisführung verändert werden kann, selbst der nicht, der durch Selbstzweifel abgeschwächt wurde. Und dennoch spricht der Tarlaner offen über den Glauben anderer, während er sich über den eigenen ausschweigt.
Vermutlich ist der Tarlaner wegen der Schuld an den Todesfällen unter den Cromsaggi zutiefst bekümmert, wobei seine Schuldgefühle noch verstärkt werden, weil ihm die Strafe, die er für dieses ungeheure Verbrechen für angemessen hält, ungerechterweise vorenthalten worden ist“, fuhr Khone fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Vielleicht strebt er sowohl nach Bestrafung als auch nach Vergebung und glaubt nun, beides werde ihm versagt.“
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