Das lag daran, daß die Kapsel auf ihrem unregelmäßigen Kurs zu nah an das Schlafgestell des festgebundenen Patienten AUGL-Eins-Sechsundzwanzig geriet, der sie sich schnappte, als sie vorbeigeschwommen kam, und sie innerhalb weniger Sekunden gierig verschlang. Daran schloß sich ein hitziger Disput zwischen Eins-Dreizehn und Eins-Sechsundzwanzig an, in dem die Beschuldigung des Diebstahls mit dem Vorwurf des Egoismus beantwortet wurde und der durch den Start der fünften und letzten Nahrungskapsel ein Ende fand.
Der allmählich genesende Eins-Dreizehn mußte wohl müde sein, dachte Gurronsevas, denn diesmal dauerte die Jagd sehr lange, und den Bewegungen des AUGLs mangelte es offenbar an Koordination. Mehrmals stieß er heftig gegen die Schlafgestelle, die zu beiden Seiten an den Wänden der Station aufgestellt waren, oder riß große Mengen der duftenden Dekorationspflanzen ab, die man nur lose an den Wänden und der Decke befestigt hatte. Doch Eins-Dreizehns Mitpatienten schienen sich nichts daraus zu machen und feuerten ihn entweder an oder versuchten, einen Happen aus der Kapsel herauszubeißen, wenn sie vorbeigeschossen kam.
„Der zertrümmert mir meine ganze Station!“ rief Hredlichli entsetzt. „Halten Sie ihn auf! Halten Sie ihn sofort auf!“
„Ich glaube, die meisten Schäden sind nur oberflächlich, Oberschwester“, beruhigte Timmins die aufgebrachte Oberschwester, wenngleich er sich seiner Sache nicht besonders sicher schien. „Gleich morgen, wenn die erste Schicht beginnt, schicke ich Ihnen einen Reparaturtrupp.“
Patient Eins-Dreizehn, der die fünfte Nahrungskapsel mit Stumpf und Stiel hatte verschwinden lassen, kehrte zum Personalraum zurück. Langsam schwamm er an zwei deutlich verbogenen Schlafgestellen vorbei und zwischen umhertreibenden Knäueln aus künstlichen Pflanzen hindurch, bis er sich direkt vor dem Eingang befand. Sein riesiges, höhlenartiges rosa Maul öffnete sich weit.
„Mehr, bitte“, flehte er die Anwesenden an.
„Tut mir leid, mehr gibt es nicht“, antwortete Chefarzt Edanelt, der sich zum ersten Mal seit seinem Eintreffen auf der Station zu Wort meldete. „Sie haben an einem Versuch teilgenommen, den Chefdiätist Gurronsevas durchgeführt hat, ein Versuch, der meiner Ansicht nach noch etwas abgeändert werden muß. Vielleicht gibt es morgen oder in den nächsten Tagen mehr.“
Als sich Eins-Dreizehn abwandte, um sich zu entfernen, sagte Hredlichli schnell: „Schwestern, überprüfen Sie sofort den Zustand unserer Patienten und melden Sie mir, falls dieser. dieser Versuch zu irgendeiner Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt hat. Danach versuchen Sie, das Durcheinander so gut wie möglich in Ordnung zu bringen.“ An den Chefarzt gewandt fuhr sie fort: „Ich finde nicht, daß man den Versuch abändern sollte, Doktor. Meiner Ansicht nach sollte man ihn ganz schnell wie einen bösen Traum vergessen. Noch so einen Versuch hält meine Station nämlich nicht.“
Die Oberschwester verstummte/ weil Edanelt ein Vorderglied erhoben hatte und die Spitzen einer seiner Zangen langsam knackend zusammenschlug. Auf diese Weise bat ein Melfaner um Aufmerksamkeit.
„Die Demonstration ist interessant und alles in allem erfolgreich gewesen, auch wenn die momentane Verwüstung der Station auf etwas anderes schließen läßt“, sagte er. „Wie wir wissen, hat die unnötig langsame Genesung bei den Patienten von Chalderescol einen psychologischen Grund. Nach der Operation werden die AUGLs gewöhnlich lustlos, gelangweilt und faul, und sie verlieren jegliches Interesse an der eigenen Zukunft. Diese neuartigen Nahrungskapseln, die übrigens nur bewegungsfähigen Patienten auf dem Weg der Besserung verabreicht werden sollten, versprechen, das zu ändern. Nach der Reaktion von Eins-Dreizehn und zukünftigen genesenden Patienten zu urteilen, wird diese ständige Erinnerung an das Vergnügen, die echten Beutetiere, von denen die Chalder auf ihrem Heimatplaneten erwartet werden, zu jagen und zu essen, die langweiligen Mahlzeiten beträchtlich beleben. Und die aus medizinischen Gründen ruhiggestellten Patienten, die ihre bewegungsfähigen Artgenossen beobachten, werden sich bemühen, ihre Genesung so schnell wie möglich voranzutreiben.
Ich muß Ihnen allen ein großes Kompliment machen“, lobte Edanelt die vier Anwesenden, wobei er sie der Reihe nach ansah, „doch insbesondere dem Chefdiätisten für seine einfallsreiche Lösung eines Problems, das bei der Wiederherstellung der Chalder bis jetzt ein ernsthaftes Hindernis gewesen ist. Dennoch habe ich zwei Vorschläge zu machen.“
Edanelt legte eine Pause ein, und die anderen vier schwiegen und warteten. In Anbetracht seines hohen medizinischen Dienstgrads war der Melfaner ungewöhnlich höflich, doch für eine bloße Pathologin, einen Lieutenant des Wartungsdiensts, eine Oberschwester und selbst einen Chefdiätisten waren die Vorschläge eines Chefarztes, der Gerüchten zufolge bald zum Diagnostiker befördert werden sollte, von Anweisungen nicht zu unterscheiden.
„Gurronsevas“, fuhr Edanelt fort, „mir wäre es lieb, wenn Sie und Timmins die bewegungsfähige Chalder-Mahlzeit so modifizieren könnten, daß sie nicht mehr so schnell und wendig ist. Die körperliche Anstrengung bei der Jagd auf die Beute, wie erfreulich sie für den Jäger und wie aufregend sie für die Zuschauer auch sein mag, könnte den Patienten in Gefahr bringen, einen Rückfall zu erleiden. Außerdem würde eine weniger flinke Nahrüngskapsel das Risiko struktureller Schäden an der Ausrüstung und Dekoration der Station stark verringern.“
An Hredlichli gewandt, sagte er: „Dieses Risiko könnte durch den richtigen psychologischen Ansatz von Ihnen und den Schwestern noch weiter gesenkt werden. Wissen Sie, Sie sollten nicht zu autoritär vorgehen, weil es sich bei den Chaldern trotz der furchteinflößenden körperlichen Erscheinung um eine sehr sensible Spezies handelt. Erinnern Sie die AUGLs hin und wieder durch eine beiläufige Bemerkung daran, daß wir Freunde sind, die sich bemühen, sie so schnell wie möglich zu heilen, damit sie nach Hause können. Und geben Sie den Patienten zu verstehen, daß sie in der Wohnung eines Freundes auf ihrem Heimatplaneten auch keine derart ausgelassenen Tischmanieren an den Tag legen würden. Ich bin mir sicher, dieser Ansatz wird das Risiko struktureller Schäden auf Null reduzieren. Zudem dürften Sie sich dadurch auch persönlich gleich ein ganzes Stück glücklicher fühlen, Oberschwester.“
„Ja, Doktor“, bestätigte Hredlichli mit sehr unglücklich klingender Stimme.
„Auf jeden Fall macht es die Wartungsabteilung glücklicher“, warf Timmins ein. „Wir werden sofort mit den Änderungsarbeiten beginnen.“
„Vielen Dank“, sagte Edanelt und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Gurronsevas zu. „Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, welchem Problem unser höchst unberechenbarer Chefdiätist als nächstes zu Leibe rücken wird.“
Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas. Über den Stationskommunikator berichteten die Schwestern von dem Zustand der Patienten, die, wie sie sagten, zwar aufgeregt waren, aber keine weiteren Symptome zeigten, die Grund zu medizinischer Besorgnis gegeben hätten. Wie Gurronsevas klar wurde, hatte es sich bei dem letzten Satz des Chefarztes um keine bloße Höflichkeitsfloskel gehandelt; Edanelt war wirklich neugierig und erwartete von ihm eine ehrliche Antwort.
„Ich bin mir noch nicht schlüssig, Doktor Edanelt, weil mir bisher in vielen Bereichen die Erfahrung mit der Krankenkost fehlt“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aus diesem Grund habe ich mit diesem relativ geringfügigen Einzelproblem angefangen, das nur wenige Chalder betrifft. Hätte ich gleich zu Anfang die Mahlzeiten einer im Hospital zahlreicher vertretenen Spezies verändert, wäre es womöglich zu massiven Protesten gekommen, wenn die neuen Rezepte keinen Anklang gefunden hätten. Darum habe ich vor, mich zunächst auf die Ernährungsbedürfnisse von einzelnen Wesen zu konzentrieren. Die ersten Tests werde ich mit Freiwilligen durchführen, doch später könnte es notwendig werden, sie heimlich ohne Wissen der jeweiligen Zielgruppe umzusetzen. Bei den zahlreicher vertretenen Spezies möchte ich mich eigentlich nicht an tiefgreifendere Änderungen der Kost wagen, bis ich mehr über die damit verbundenen medizinischen und technischen Schwierigkeiten weiß.“
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