BAGROWSKI, EMANUEL: Entdeckt …
Quellen hielt den Apparat an. Er suchte sich die Beschreibung von Lona Walk heraus und machte die interessante Entdeckung, daß sie im Jahre 2098 gelandet war, angeblich im Jahre 2471 geboren war und am ersten November 2488 die Zeitreise gemacht hatte. Es war also verabredet gewesen: Ein Achtzehnjähriger und eine Siebzehnjährige, die dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert den Rücken zukehrten und in der Vergangenheit gemeinsam ein neues Leben beginnen wollten. Aber Martin Backhouse war im Jahre 2102 gelandet und seine Freundin im Jahre 2098. Bestimmt hatten sie es nicht so geplant. Womit Quellen den Beweis hatte, daß der Sprung in die Vergangenheit nicht hundertprozentig vorherzuplanen war. Wenigstens nicht am Anfang. Ihm kam der Gedanke, wie unangenehm das für Lona Walk gewesen sein mußte: in der Vergangenheit zu landen und dort zu erfahren, daß der Mann ihrer Wahl es nicht im gleichen Jahr geschafft hatte.
Quellen stellte sich ein paar düstere Zeitreisentragödien dieser Art vor. Romeo landet 2100, Julia 2025. Mit gebrochenem Herzen steht Romeo vor dem verwitterten Grabstein Julias. Oder noch schlimmer — der jugendliche Romeo trifft die neunzigjährige Greisin Julia. Wie hatte Lona Walk die vier Jahre verbracht, in denen sie auf Martin Backhouse wartete? Wie konnte sie sicher sein, daß er überhaupt ankommen würde? Was geschah, wenn sie aufgab und einen anderen heiratete, bevor er erschien? Oder wenn die vierjährige Trennung ihre Liebe zerstört hätte? Denn wenn er in die Vergangenheit kam, war sie zweiundzwanzig und er achtzehn.
Interessant, dachte Quellen. Ohne Zweifel eine ergiebige Stoffquelle für die Dramenschreiber des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Plötzlich waren die Emigranten aus der Zukunft da, plötzlich stand man kopfschüttelnd vor Paradoxa. Wie mußten sich die Vorfahren die Köpfe über diese Zeitreisenden zerbrochen haben!
Aber natürlich war es fast vierhundert Jahre her, seit die ersten Zeitreisenden aufgetaucht waren. Das ganze Phänomen war seit Generationen in Vergessenheit geraten. Nur die Tatsache, daß die Reisenden aus dem Jetzt kamen, hatte es wieder in den Vordergrund treten lassen. Pech, dachte Quellen düster. Gerade in meiner Amtszeit.
Er dachte über andere Aspekte des Problems nach.
Angenommen, einige Zeitreisende hatten sich gut eingewöhnt, sich niedergelassen und Menschen aus der neuen Epoche geheiratet. Nicht wie Martin Backhouse, der ein Mädchen seiner eigenen Zeit nahm, sondern Menschen, deren Zeitlinien vier oder fünf Jahrhunderte vor den eigenen begannen. Wie leicht war es möglich, daß sie ihre eigenen Urururgroßmütter geheiratet hatten und damit Vorfahren und Nachkommen zugleich waren! Wie wirkte sich das auf die Erbfaktoren aus?
Oder: Ein Mann landet im Jahre 2050, gerät in Streit mit dem erstbesten Mann, tötet ihn im Kampf und muß entdecken, daß er einen seiner direkten Vorfahren umgebracht hat. Quellen brummte der Kopf. Angenommen, der Täter hörte auf zu existieren, als sei er nie geboren worden? Gab es Aufzeichnungen von solchen Fällen? Das mußt du notieren, sagte er sich. Du mußt diese Dinge von allen Seiten beleuchten.
Er glaubte nicht, daß so etwas möglich war. Er hielt an dem Gedanken fest, daß man die Vergangenheit nicht verändern konnte. Denn die Vergangenheit war ein geschlossenes Buch. Sie war bereits geschehen. Jede Manipulation, die ein Zeitreisender vorgenommen haben könnte, war bereits aufgezeichnet.
Und das macht uns zu Marionetten, dachte Quellen düster. Er war am Ende seiner Folgerungen angelangt. Angenommen, ich ginge zurück in das Jahr 1772, um George Washington zu töten? In allen Geschichtsbüchern steht, daß Washington bis zum Jahre 1799 lebte. Ist es dadurch unmöglich gemacht worden, ihn 1772 umzubringen?
Er runzelte die Stirn. Solche Überlegungen machten ihn ganz schwindlig. Abrupt wandte er sich wieder der Arbeit zu. Er mußte einen Weg finden, um den verbotenen Strom in die Vergangenheit aufzuhalten. Er mußte es schon tun, um die Tatsache zu erfüllen, daß nach 2491 keine Zeitreisenden mehr in die Vergangenheit gekommen waren.
Einen Punkt gab es, an dem er einhaken konnte.
Viele der Zeitreisenden hatten das Datum zugegeben, an dem sie den Sprung gewagt hatten. Dieser Martin Backhouse zum Beispiel. Er hatte die Reise am 1. November 2488 gemacht. Dagegen konnte jetzt nichts mehr unternommen werden. Aber wenn sich unter den Entdeckten einer befand, der am 4. April 2490 aufgebrochen war? Das wäre nächste Woche. Wenn man so einen Menschen unter Bewachung stellen könnte, ließe sich ein Weg zu dem Unternehmen finden. Vielleicht konnte man den Mann sogar davon abhalten, die Reise zu machen …
Quellens Mut sank. Wie konnte man jemanden davon abhalten in die Vergangenheit zu gehen, wenn jahrhundertealte Dokumente sagten, daß er dennoch angekommen war? Wieder ein Paradoxon. Es könnte die Struktur des Universums erschüttern, wenn ich eingreife, dachte Quellen, wenn ich einen Menschen aus seiner Lebensmatrix reiße …
Er suchte die endlosen Reihen der Zeitreisenden durch. Mit dem verstohlenen Vergnügen eines Menschen, der genau weiß, daß er etwas Gefährliches tut, suchte Quellen nach der Information, die er brauchte. Es dauerte eine ganze Weile. Brogg hatte die Namen der Zeitreisenden alphabetisch geordnet und nicht darauf geachtet, in welchem Verhältnis die Abreisedaten zueinander standen. Außerdem hatten sich viele der Ankömmlinge geweigert, das Datum anzugeben.
Aber nach einer halben Stunde geduldigen Suchens hatte er den Mann, den er brauchte:
RADANT, CLARK R.: Entdeckt am 12. Mai 1987 in Brooklyn, New York. Acht Tage verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 14. Mai 2458, angebliches Abreisedatum Mai 2490 …
Das genaue Datum stand nicht da, aber es würde genügen. Während des kommenden Monats würde man Clark Radant genau überwachen. Mal sehen, ob er dann noch in die Vergangenheit fliehen kann, dachte Quellen.
Er drückte auf einen Komputerknopf und wählte die Personalaufzeichnungen.
»Ich brauche Auskunft über Clark Radant, geboren am 14. Mai 2458«, sagte er.
Der große Komputer, der sich irgendwo in der Tiefe des Gebäudes befand, war so konstruiert, daß er unmittelbar antworten konnte. Aber die Auskunft, die Quellen erhielt, war alles andere als brauchbar.
»KEINE AUFZEICHNUNGEN ÜBER CLARK RADANT, GEBOREN AM 14. MAI 2458«, lautete die Antwort.
»Keine Aufzeichnungen? Heißt das, daß die genannte Person nicht existiert?«
»JAWOHL.«
»Das ist unmöglich. Er wird in den Listen der Zeitreisenden geführt. Das kann man nachprüfen. Er tauchte am 12. Mai 1987 in Brooklyn auf.«
»DAS STIMMT. CLARK RADANT BEFINDET SICH UNTER DEN REISENDEN DES JAHRES 2490 UND KAM IM JAHRE 1987 AN.«
»Na also! Du mußt also irgendeine Information über ihn haben. Weshalb …«
»VERMUTLICH HAT DER MANN EINEN FALSCHEN NAMEN EINGETRAGEN. UNTERSUCHEN SIE DIE MÖGLICHKEIT, DASS DER NAME RADANT NUR EIN PSEUDONYM IST.«
Quellen biß sich auf die Lippen. Natürlich! Dieser Radant hatte einen falschen Namen angegeben, als er im Jahre 1987 landete. Vielleicht waren alle Namen auf der Liste der Zeitreisenden falsch. Vielleicht riet man ihnen vor der Abreise, die Namen abzuändern, oder man brachte sie dazu, daß sie sie vergaßen. Der rätselhafte Clark Radant war acht Tage lang verhört worden, hieß es, und doch hatte er keinen Namen angegeben, der im Geburtenregister stand.
Quellen sah seinen kühnen Plan zu einem Nichts zerfließen. Aber er versuchte es noch einmal. Nach fünf Minuten stieß er auf eine neue Spur:
MORTENSEN, DONALD G.: Entdeckt am 25. Dezember 2088 in Boston, Massachusetts. Vier Stunden verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 11. Juni 2462, angebliches Abreisedatum: 4. Mai 2490 …
Hoffentlich hatte Donald Mortensen vor vierhundert Jahren ein schönes Weihnachtsfest erlebt. Quellen befragte wieder den Komputer. Er machte sich schon darauf gefaßt, daß er nichts über den Mann erfahren würde.
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