»Was ist das?«, fragte Khouri. Sie hinkte jetzt. Die Explosion in der Krankenstation hatte ihre Spuren hinterlassen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Sonnendieb experimentiert«, sagte Volyova. Sie war so außer Atem, dass sie alle zwei Worte eine Pause machte. Ihre Seite brannte wie Feuer, als wollten alle Verletzungen, die seit Resurgam verheilt waren, wieder aufreißen. »Bisher hat er die weniger kritischen Systeme wie die Roboter und die Ratten gegen uns eingesetzt. Aber wenn er den Antrieb erst richtig kennt — wenn er ihn so bedienen kann, dass die Toleranzen nicht überschritten werden —, braucht er nur den Schub ein paar Sekunden lang hochzufahren, um uns zu zermalmen.« Keuchend rannte sie ein paar Schritte weiter. »So habe ich Nagorny getötet. Aber Sonnendieb kontrolliert zwar das Schiff, aber er kennt es nicht gut genug. Also spielt er im Moment ganz vorsichtig mit dem Antrieb, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Wenn er das erst geschafft hat…«
»Können wir nicht irgendwo hingehen«, fragte Pascale, »wo wir in Sicherheit sind? Wo uns die Ratten und die Maschinen nichts anhaben können?«
»Schon, aber vor der Beschleunigung sind wir nirgends sicher. Sie kann uns überall zermalmen.«
»Das heißt, wir müssen das Schiff verlassen. Das wolltest du doch sagen.«
Sie blieb stehen, sah sich den Korridor genau an und stellte fest, dass er nicht zu denen gehörte, die das Schiff abhören konnte. »Passt auf«, sagte sie. »Macht euch keine Illusionen. Wenn wir das Schiff verlassen, bezweifle ich sehr, dass wir eine Möglichkeit finden, wieder zurückzukehren. Andererseits sind wir verpflichtet, Sylveste aufzuhalten, wenn wir nur die geringste Chance dafür sehen. Auch wenn es uns selbst das Leben kosten sollte.«
»Wie willst du Dan erreichen?«, fragte Pascale. Offenbar verstand sie unter Aufhalten immer noch, Sylveste irgendwie einzufangen und ihn zu überzeugen, seine Pläne nicht weiter zu verfolgen. Volyova beschloss, ihr diese Illusion noch eine Weile zu lassen, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes im Sinn hatte.
»Ich glaube, dein Mann hat einen von unseren Anzügen genommen«, sagte sie. »Mein Armband sagt, dass von den Shuttles keines fehlt. Außerdem hätte er damit nicht fliegen können.«
»Oder höchstens mit Sonnendiebs Hilfe«, wandte Khouri ein. »Hört mal, können wir nicht weitergehen? Ich weiß, wir haben kein bestimmtes Ziel, aber mir ist nicht wohl dabei, wenn wir zu lange nur herumstehen.«
»Er hätte auf jeden Fall einen Anzug genommen«, sagte Pascale. »Das hätte auf seiner Linie gelegen. Aber er wäre nicht allein damit losgezogen.«
»Hältst du es für möglich, dass er Hilfe von Sonnendieb angenommen hätte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Er hat nicht einmal an Sonnendieb geglaubt. Wenn er nur den Verdacht gehabt hätte, dass er zu irgendetwas gedrängt — gezwungen — werden sollte; nein, das hätte er niemals akzeptiert.«
»Vielleicht hatte er gar keine andere Wahl«, sagte Khouri. »Aber wie auch immer; nehmen wir an, er wäre mit einem Anzug unterwegs. Gäbe es dann eine Möglichkeit, ihn einzuholen?«
»Nicht, bevor er Cerberus erreicht.« Die Möglichkeit brauchten sie gar nicht in Betracht zu ziehen. Volyova wusste, wie schnell man im Weltall eine Million Kilometer zurücklegen konnte, wenn man sich einer konstanten Beschleunigung von zehn Ge aussetzte. »Für uns sind die Anzüge zu riskant, jedenfalls so, wie dein Mann sie benützt. Wir müssen mit einem der Shuttles hinunterfliegen. Sie sind sehr viel langsamer, aber die Gefahr, dass Sonnendieb die Steuermatrix infiltriert hat, ist dafür geringer.«
»Warum das?«
»Klaustrophobie. Die Shuttles sind in der Entwicklung etwa dreihundert Jahre hinter den Anzügen zurück.«
»Und was nützt uns das?«
»Glaube mir, wenn man mit ansteckenden fremden Geistesparasiten zu tun hat, kann man gar nicht primitiv genug sein.« Dann brachte sie, fast als wäre das eine anerkannte Form verbaler Zeichensetzung, ihren Nadler in Anschlag und erledigte eine Ratte, die sich in den Korridor verirrt hatte.
»An diesen Raum erinnere ich mich«, sagte Pascale. »Du hast uns hierher gebracht, als…«
Khouri befahl der Tür mit der kaum sichtbaren Spinne, sich zu öffnen.
»Hinein mit dir«, sagte sie. »Mach es dir bequem. Und fang schon mal zu beten an, damit mir wieder einfällt, wie Ilia dieses Ding gesteuert hat.«
»Wo treffen wir uns mit ihr?«
»Draußen«, sagte Khouri. »Hoffe ich jedenfalls.«
Sie war schon dabei, die Tür des Spinnenraums zu schließen. Ihr Blick ruhte auf den Messing- und Bronzeschaltern. Sie hoffte auf einen Erinnerungsfunken.
Im Orbit um Cerberus/Hades
2566
Volyova zog den Nadler und näherte sich dem Captain.
Sie musste so schnell wie möglich den Hangar erreichen; jede Verzögerung verschaffte Sonnendieb mehr Zeit, um sich zu überlegen, wie er sie töten konnte. Aber vorher stand noch etwas anderes an. Es war weder logisch noch vernünftig — aber es musste sein. Sie stieg die Treppe zum Captainsdeck hinunter. Die Kälte war so durchdringend, dass ihr der Atem in der Kehle zu gefrieren schien. Ratten gab es hier unten nicht: zu kalt. Und Servomaten durften ihm nicht zu nahe kommen, wollten sie nicht riskieren, dass sie von der Seuche erfasst und zu einem Teil von ihm gemacht wurden.
»Können Sie mich hören, Dreckskerl?« Sie befahl ihrem Armband, ihn so weit zu erwärmen, dass bewusste Denkprozesse möglich wurden. »Wenn ja, dann geben Sie Acht. Jemand hat das Schiff übernommen.«
»Kreisen wir noch um Bloater?«
»Nein… nein, wir kreisen nicht mehr um Bloater. Das ist schon lange her.«
Augenblicke später fragte der Captain: »Übernommen, sagen Sie? Wer?«
»Ein Alien mit ziemlich unerfreulichen Zielsetzungen. Die meisten von uns sind bereits tot — Sajaki, Hegazi, auch die anderen Besatzungsmitglieder, die Sie noch kannten — und wer noch übrig ist, sieht zu, dass er das Schiff verlässt, so lange er noch kann. Ich rechne nicht damit, wieder an Bord zurückzukehren, und deshalb werde ich jetzt etwas tun, das Ihnen ziemlich drastisch vorkommen mag.«
Sie zielte mit dem Nadler auf den aufgeplatzten, verformten Kälteschlaftank, der den Captain nicht mehr hatte halten können.
»Ich werde Sie erwärmen, verstehen Sie? Jahrzehntelang konnten wir nicht mehr für Sie tun, als Sie möglichst kühl zu halten — aber das hat nicht funktioniert, vielleicht war es von vornherein falsch. Vielleicht können wir nur noch zusehen, wie Sie das verdammte Schiff übernehmen — auf Ihre Weise.«
»Ich glaube nicht…«
»Was Sie glauben, ist mir egal, Captain. Ich tue es trotzdem.«
Der Finger auf dem Auslöser spannte sich, während sie im Geiste berechnete, wie viel schneller er sich ausbreiten würde, wenn er sich erwärmte. Sie kam auf ziemlich unwahrscheinliche Ergebnisse… aber schließlich hatten sie diese Maßnahme auch noch nie erwogen.
»Ilia, bitte.«
»Hören Sie zu, Svinoi«, sagte sie barsch. »Vielleicht funktioniert es ja, vielleicht auch nicht. Aber wenn ich Ihnen jemals Loyalität bewiesen habe — wenn Sie sich überhaupt noch an mich erinnern —, dann verlange ich dafür nur eines: tun Sie für uns, was Sie können.«
Sie wollte schießen; wollte die Nadlergeschosse in den Tank jagen, doch sie zögerte noch.
»Eins muss ich Ihnen doch noch sagen. Ich glaube zu wissen, wer, zum Teufel, Sie sind, oder vielmehr, wer, zum Teufel, Sie geworden sind.«
Sie spürte deutlich, wie ihr der Mund trocken wurde. Sie wusste, dass sie kostbare Zeit verschwendete, aber etwas drängte sie fortzufahren.
»Was haben Sie mir zu sagen?«
»Sie sind mit Sajaki zu den Musterschiebern gereist, nicht wahr? Ich weiß es. Es wurde an Bord oft genug erwähnt — sogar von Sajaki selbst. Aber niemand hat je erzählt, was dort geschehen ist: was die Schieber mit Ihnen beiden angestellt haben. Oh, ich weiß, es gab Gerüchte — aber mehr auch nicht; sie waren von Sajaki lanciert, um mich von der Fährte abzubringen.«
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