»Du weißt inzwischen, wann ich in Sylveste eingedrungen bin.« Das war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. Volyova fragte sich, wie viel von ihren Gesprächen Sonnendieb wohl mit angehört hatte.
»Es muss vor Lascailles Schleier gewesen sein«, sagte sie. »Nur das ergibt einen Sinn — wenn auch nicht allzu viel, wie ich zugeben muss.«
»Wir hatten dort Zuflucht gefunden; neunhundertundneunzigtausend Jahre lang.«
Die Übereinstimmung war zu groß; das konnte kein Zufall sein. »Seit euer Leben auf Resurgam endete.«
»Ja.« Das Wort verklang. Die Stille schien zu brodeln. »Wir hatten die Schleier errichtet; die letzte Verzweiflungstat unseres Schwarms, nachdem alle, die auf dem Planeten zurückblieben, zu Asche verbrannt waren.«
»Ich verstehe nicht. Was Lascaille sagte und Sylveste auch selbst herausfand…«
»Man zeigte ihnen nicht die Wahrheit. Lascaille sah eine Fiktion — wir ersetzten unsere Identität durch die einer viel älteren Kultur, die keinerlei Ähnlichkeit mit uns hatte. Der wahre Zweck der Schleier wurde ihm nicht offenbart. Man zeigte ihm eine Lüge, um andere Besucher anzulocken.«
Jetzt begriff Volyova auch die Wirkungsweise des Manövers. Lascaille hatte man erklärt, die Schleier seien Horte gefährlicher Technik — wahre Fundgruben für vieles, wonach die Menschheit insgeheim gierte, wie etwa für Methoden der Raumfahrt mit Überlichtgeschwindigkeit. Lascaille hatte das Sylveste offenbart und damit dessen Verlangen, das Rätsel der Schleier zu lüften, noch weiter angeheizt. Zugleich hatte er Sylveste auf diese Weise ein Argument an die Hand gegeben, mit dem er die gesamte Demarchisten-Gesellschaft um Yellowstone für sein Unternehmen gewinnen konnte, denn wer die Geheimnisse der Aliens als Erster entschlüsselte, konnte damit rechnen, mit geradezu märchenhaften Reichtümern belohnt zu werden.
»Aber wenn das eine Lüge war«, sagte sie, »was war dann der wahre Zweck der Schleier?«
»Wir haben sie errichtet, um uns dahinter zu verstecken, Triumvir Volyova.« Jetzt spielte er mit ihr, weidete sich an ihrer Verwirrung. »Es waren Zufluchtsorte. Umstrukturierte Raumzeit-Sphären, die uns Schutz boten.«
»Schutz vor wem?«
»Vor den Überlebenden des Morgenkrieges. Sie sind auch als Unterdrücker bekannt.«
Sie nickte. Vieles verstand sie immer noch nicht, aber eines war ihr jetzt klar. Was Khouri ihr erzählt hatte — die Fragmente jenes seltsamen Traums im Leitstand —, war tatsächlich die Wahrheit. Khouri hatte nicht alles in Erinnerung behalten, und sie hatte Mühe gehabt, die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge darzustellen, aber jetzt begriff Volyova, woran das lag. Man hatte Khouri etwas gezeigt, das zu gewaltig, zu fremd — zu apokalyptisch war, als dass ihr Verstand es hätte fassen können. Sie hatte ihr Bestes getan, aber das hatte nicht gereicht. Jetzt wurden Volyova Teile desselben Bildes aus einer ganz anderen Perspektive offenbart.
Khouri hatte die Geschichte des Morgenkrieges von der Mademoiselle gehört, und die hatte gewollt, dass Sylvestes Unternehmen scheiterte. Sonnendieb dagegen wünschte sich mit aller Inbrunst, dass Sylveste Erfolg haben möge.
»Was willst du?«, fragte Volyova. »Ich weiß, warum du hier bist: du willst mich festnageln, du hältst mich hin, weil du weißt, dass ich alles tun würde, um eine Erklärung von dir zu bekommen. Und irgendwie hast du Recht. Ich muss es erfahren. Ich muss alles erfahren.«
Sonnendieb wartete schweigend, bis sie alle ihre Fragen gestellt hatte, dann beantwortete er sie.
Als Volyova fertig war, beschloss sie, eine der Kugeln in ihrem Patronengurt sinnvoll zu verwenden. Sie schoss auf die Projektionssphäre. Die große Glaskugel zersprang in unzählige Scherben und bei der Explosion wurde auch Sonnendiebs Gesicht zerstört.
Khouri und Pascale steuerten auf Umwegen die Krankenstation an. Sie mieden alle Fahrstühle und alle gut erhaltenen Korridore, die für Drohnen leicht zugänglich waren. Sie hielten die Waffen ständig im Anschlag und schossen auf alles, was ihnen auch nur im geringsten verdächtig vorkam, auch wenn es sich hinterher als Schatten oder als merkwürdig geformter Rostfleck an einer Wand oder einem Schott herausstellte.
»Hat er eigentlich vorher angedeutet, dass er schon früher aufbrechen wollte?«, fragte Khouri.
»Nein, jedenfalls nicht so früh. Ich meine, ich dachte mir schon, dass er es irgendwann versuchen würde, aber ich habe mich bemüht, es ihm auszureden.«
»Was empfindest du jetzt?«
»Was soll ich darauf sagen? Er war mein Mann. Wir haben uns geliebt.« Pascale drohte zusammenzubrechen; Khouri streckte den Arm aus und fing sie auf. Pascale rieb sich die nassen Augen, bis sie rot waren. »Ich hasse ihn, weil er sich so verhält… das würdest du auch tun. Und ich kann ihn nicht verstehen. Aber ich liebe ihn immer noch. Ich denke ständig… vielleicht ist er schon tot. Es wäre doch möglich? Und selbst wenn nicht, es gibt keine Garantie, dass ich ihn jemals wiedersehe.«
»Sein Ziel ist wirklich nicht gerade der sicherste Ort«, bestätigte Khouri. Doch insgeheim fragte sie sich, ob Cerberus gefährlicher sein konnte als das Schiff.
»Nein, ich weiß. Ich glaube, er ahnt gar nicht, in welcher Gefahr er schwebt — und wir mit ihm.«
»Andererseits reden wir hier von Sylveste, und er ist kein gewöhnlicher Mensch«, gab Khouri zu bedenken. Er habe, erinnerte sie Pascale, sein Leben lang auffallend viel Glück gehabt, es wäre doch seltsam, wenn ihn das Schicksal gerade jetzt, so kurz vor dem Ziel seiner Wünsche, im Stich ließe. »Er wird sich winden wie ein Aal, und ich denke, er hat immer noch gute Chancen, einen Ausweg zu finden.«
Pascale beruhigte sich ein wenig.
Nun sagte ihr Khouri, dass Hegazi tot war und das Schiff offenbar jedem nach dem Leben trachtete, der sich noch an Bord befand.
»Sajaki kann nicht hier sein«, sagte Pascale. »Ich meine, das ist doch ausgeschlossen, nicht wahr? Wie sollte Dan allein nach Cerberus kommen? Er brauchte jemanden von euch zur Begleitung.«
»Das ist auch Volyovas Meinung.«
»Was wollen wir dann hier?«
»Vermutlich traut Volyova ihren eigenen Überzeugungen nicht.«
Khouri stieß die Tür auf, die vom teilweise überfluteten Zugangskorridor in die Krankenstation führte, und trat dabei mit dem Fuß nach einer Pförtnerratte. Auf der Krankenstation stimmte etwas nicht. Sie roch es sofort.
»Pascale, hier ist etwas Schlimmes passiert.«
»Ich… was soll ich denn jetzt tun? Soll ich dir vielleicht Deckung geben?« Pascale hatte ihre Pistole in der Hand, schien aber nicht recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte.
»Ja«, sagte Khouri. »Gib mir Deckung. Das ist eine sehr gute Idee.«
Sie betrat die Krankenstation mit vorgehaltenem Plasmagewehr.
Sobald der Raum ihre Gegenwart registrierte, verstärkte er die Beleuchtung. Khouri hatte Volyova hier besucht, nachdem sie von Sudjic verletzt worden war; sie kannte sich halbwegs aus.
Zuerst wandte sie sich dem Bett zu, wo sie Sajaki vermutete. Über dem Bett schwebte, zentral mit Scharnieren befestigt, ein Satz kardangelagerter, servo-mechanisch zu bedienender medizinischer Instrumente wie eine mutierte Stahlhand mit viel zu vielen krallenbewehrten Fingern.
Kein Zentimeter Metall, der nicht mit einer dicken Schicht geronnenen Blutes überzogen gewesen wäre wie mit Kerzenwachs.
»Pascale, du solltest nicht…«
Aber sie hatte schon gesehen, was unter den Instrumenten lag und vielleicht einmal Sajaki gewesen war. Auch das Bett war über und über mit Blut besudelt. Man konnte kaum erkennen, wo Sajaki aufhörte und seine ausgetretenen Eingeweide anfingen. Khouri fühlte sich an den Captain erinnert; nur war die Masse hier nicht silbrig, sondern scharlachrot, als habe ein Künstler sein Grundthema in einem organischen Medium variiert. Zwei Hälften eines morbiden Diptychons.
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