Sein aufgetriebener Brustkorb überragte das Bett, als stehe er noch immer unter Strom. Auch die Brust war innen hohl, in einem tiefen Krater vom Brustbein bis zum Unterleib hatte sich das Blut gesammelt. Es schien, als wäre eine riesige Stahlfaust von oben gekommen und hätte ihn ausgeweidet. Vielleicht schien es nicht nur so. Vielleicht war er nicht einmal wach gewesen, als es geschah. Khouri sah ihm prüfend ins Gesicht, suchte unter dem roten Schleier nach einem Ausdruck, der ihre Vermutung bestätigte.
Nein; Triumvir Sajaki war höchstwahrscheinlich wach gewesen.
Pascale war dicht hinter ihr, sie spürte ihre Gegenwart. »Vergiss nicht, der Tod ist mir nicht fremd«, sagte sie. »Ich war dabei, als mein Vater ermordet wurde.«
»Aber so etwas hast du noch nie gesehen.«
»Nein«, gestand sie. »Du hast Recht. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
In diesem Moment explodierte Sajakis Brustkorb, eine Blutfontäne spritzte auf, und etwas sprang heraus. Die beiden konnten zunächst nicht erkennen, was es war. Doch dann landete es auf dem blutverschmierten Boden und huschte mit peitschendem Schwanz davon. Drei weitere Ratten streckten die Schnauze aus Sajakis Innerem, prüften die Luft und musterten Khouri und Pascale mit schwarzen Knopfaugen. Dann hievten auch sie sich aus dem Krater, der einmal Sajakis Oberkörper gewesen war, sprangen zu Boden und folgten ihrem Artgenossen in eine der vielen dunklen Nischen.
»Wir müssen hier weg«, sagte Khouri. Doch bevor sie noch zu Ende gesprochen hatte, passierte es. Die stählerne Faust über dem Bett aktivierte sich, fuhr wie der Blitz die Finger mit den Diamantkrallen aus und kam so rasend schnell auf sie zu, dass sie nur noch schreien konnte. Die Krallen erfassten ihre Jacke und zerrissen sie. Khouri versuchte sich mit aller Kraft zu befreien.
Es gelang ihr zwar, sich loszureißen, aber die Finger hatten sich bereits um ihr Gewehr gelegt und entwanden es ihr mit brutaler Gewalt. Khouri fiel zu Boden. Sajakis Blut besudelte ihr die Jacke, aber der hellrote Fleck über ihren Rippen stammte wohl von ihr selbst.
Der mechanische Chirurg hob das erbeutete Gewehr und schaukelte es triumphierend hin und her. Zwei der beweglichen Manipulatoren schlängelten sich nach vorne, betasteten die Bedienungselemente und strichen in grausiger Faszination über die lederne Schutzhülle. Dann drehten sie die Mündung langsam, ganz langsam in Khouris Richtung.
Pascale hob ihre Strahlenpistole und schoss. Blutverkrustete Metallsplitter regneten auf Sajakis Überreste nieder. Das Plasmagewehr krachte rußgeschwärzt und qualmend zu Boden, aus der zerrissenen Schutzhülle sprühten bläuliche Funken.
Khouri rappelte sich auf. Sie war über und über mit Blut verschmiert, aber das nahm sie in diesem Moment nicht wahr.
Das Plasmagewehr hatte zornig zu summen begonnen, die Funken sprühten immer schneller.
»Es geht gleich hoch«, sagte Khouri. »Wir müssen hier raus.«
Sie wandten sich zur Tür und erstarrten. Der Ausgang war blockiert. Es mussten Hunderte sein. In Dreierreihen hintereinander stapelten sie sich im Schiffsschleim, jede Einzelne war bereit, sich ohne Rücksicht auf das eigene Leben dem Wohl der dumpfen Masse zu opfern. Und es wurden immer mehr: zu Hunderten, zu Tausenden drängten sich die Ratten im Korridor; ein ganzes Meer von Nagern lauerte vor der Krankenstation, bereit, wie eine gierige Welle vorwärts zu stürmen und alles unter sich zu begraben.
Khouri zog die einzige Waffe, die ihr noch geblieben war, den kleinen Nadler, den sie nur mitgenommen hatte, weil man mit ihm punktgenau zielen konnte. Nun schoss sie damit auf das Rattenpack. Pascale half ihr mit dem Strahler, aber der war nicht viel besser geeignet. Obwohl bei jedem Schuss eine Ratte explodierte oder verbrannte, drängten ständig neue Tiere nach. Jetzt kroch bereits die erste Reihe durch die Tür ins Innere der Krankenstation.
Ein greller Lichtschein fiel in den Korridor, dann krachte es mehrmals dicht hintereinander. Lärm und Licht kamen näher. Ratten flogen durch die Luft. Ein überwältigender Gestank nach verbrannten Nagern breitete sich aus; schlimmer noch als der Geruch, der über der Krankenstation hing. Allmählich lichteten sich die Massen, die Tiere zerstreuten sich.
Volyova erschien in der Tür. Ihr Projektilgewehr stieß Rauchwolken aus, der Lauf glühte wie Lava. Hinter Khouri war das Summen des Plasmagewehrs jäh verstummt. Die Stille war bedrohlich.
»Ich denke, wir sollten jetzt gehen«, sagte Volyova.
Khouri und Pascale rannten zur Tür und trampelten dabei rücksichtslos über tote und flüchtende Ratten hinweg. Khouri spürte einen Schlag im Rücken. Ein glühend heißer Wind strich über sie hinweg. Dann verlor sie den Boden unter den Füßen und wurde durch die Luft geschleudert.
Im Anflug auf Cerberus/Hades
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Diesmal fand er sich schneller zurecht, obwohl die Umgebung fremdartiger war als alles, was er je erlebt hatte.
»Im Anflug auf Brückenkopf Cerberus«, meldete der Anzug mit einer Selbstverständlichkeit, als sei das ein Ziel wie jedes andere. Schriftzeichen liefen über das Sichtfenster des Helms, aber seine Augen konnten sich nicht darauf einstellen. Er befahl dem Anzug, die Bilder direkt an sein Gehirn zu übertragen. Jetzt sah er besser. Die vielfach gewundenen geologischen Konturen der Planetenoberfläche — sie war jetzt so riesig, dass sie die Hälfte des Himmels ausfüllte — waren lila abgesetzt. In der Falschfarbendarstellung erinnerte die Welt mit ihren vielen Falten noch mehr an ein Gehirn als zuvor. Bis auf den mattroten Schimmer, den Hades und das viel weiter entfernte Delta Pavonis abstrahlten, gab es kaum natürliches Licht. Aber der Anzug glich das aus, indem er infrarote Photonen in den sichtbaren Bereich verschob.
Jetzt erschien über dem Horizont ein Objekt, das auf dem Sichtschirm grün blinkte.
»Der Brückenkopf«, sagte Sylveste, vor allem, um eine menschliche Stimme zu hören. »Da ist er.«
Jetzt sah er auch, wie klein er war — ein winziger Splitter in einer gewaltigen Götterstatue. Cerberus hatte einen Durchmesser von zweitausend Kilometern; der Brückenkopf war nur vier Kilometer lang und steckte zum überwiegenden Teil in der Kruste. Andererseits war gerade dieses Missverhältnis zwischen Waffe und Welt ein schlagender Beweis für Ilia Volyovas überragende Fähigkeiten.
Die Waffe mochte klein sein, aber sie war ein Dorn in Cerberus’ Fleisch, das war selbst von hier oben zu erkennen. Im Umkreis des Brückenkopfes wirkte die Kruste wie entzündet, sie stand unter einem Druck, der die eingebauten Toleranzen überstieg, und hatte über mehrere Kilometer ihr natürliches Aussehen verloren. Vermutlich war sie hier in ihren ursprünglichen Zustand zurückgefallen: ein Sechseckgitter, das an den Rändern wieder in Fels überging.
In wenigen Minuten würde Sylveste den Schlund — das offene Ende des Kegels — erreichen. Obwohl er von flüssiger Luft umgeben war, zerrte die Schwerkraft bereits an seinen Eingeweiden. Noch war sie schwach, ein Viertel des Erdstandards — trotzdem wäre ein Sturz aus dieser Höhe mit oder ohne Schutzanzug vermutlich tödlich.
Jetzt tauchte endlich ein zweiter Körper auf. Sylveste vergrößerte den Bildausschnitt. Ein Anzug wie sein eigener zeichnete sich hell vor dem dunklen Hintergrund ab. Er befand sich etwas vor ihm und strebte auf der gleichen Bahn der kreisrunden Öffnung am hinteren Ende des Brückenkopfes zu. Wie zwei Fische im Meer, dachte Sylveste. Gleich würde der Brückenkopf sie einsaugen und wie durch einen riesigen Trichter in Cerberus’ Magen befördern.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte er.
Die drei Frauen rannten einen Korridor hinunter, der völlig bedeckt war von toten Ratten und verrußten, steifen Panzern, die vermutlich einmal Ratten gewesen waren, ohne dass man sie sich genauer hätte ansehen wollen. Für alle drei war nur noch ein großes Gewehr vorhanden, aber damit konnten sie jeden Servomaten erledigen, den das Schiff womöglich auf sie hetzte. Die kleinen Pistolen erfüllten eventuell denselben Zweck, aber man musste damit umgehen können und brauchte außerdem ein Quäntchen Glück. Gelegentlich bewegte sich der Boden unter ihren Füßen. Das zerrte an den Nerven.
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