Sie erreichte unbehelligt die Brücke, aber das hinderte sie nicht, jeden Schatten auf lauernde Maschinen oder — jetzt noch gefährlicher — auf Ratten zu untersuchen. Sie wusste nicht, was ihr die Ratten antun konnten, aber sie war auch nicht scharf darauf, es herauszufinden.
Die Brücke war so leer, wie Volyova sie verlassen hatte. Die Schäden, die Khouri angerichtet hatte, waren nicht beseitigt worden; der Boden des großen, kugelförmigen Versammlungsraums war noch mit Sajakis Blut befleckt. Die Projektionssphäre hing leuchtend über ihr und zeigte immer neue Berichte über den Zustand des Cerberus-Brückenkopfs. Einen Moment lang beobachtete sie unwillkürlich mit gewissem Stolz, wie wacker sich ihr Geschöpf noch immer gegen die lebensbedrohenden Waffen der Alien-Welt verteidigte. Doch bevor die Genugtuung noch richtig zum Tragen kam, wurde sie durch den Wunsch verdrängt, der Brückenkopf möge versagen und Sylveste den Zugang versperren. Vorausgesetzt, er war noch nicht eingetroffen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte eine Stimme.
Sie fuhr herum. Von einer der umlaufenden Sitzreihen schaute eine Gestalt auf sie herab, die sie nicht kannte. Ein Mann in dunklem Mantel mit gefalteten Händen und eingefallenem Gesicht. Sie schoss auf ihn, aber er verschwand nicht. Die Kugeln der Projektilwaffe rasten durch ihn hindurch und hinterließen ionisierte Streifen, die wie Fahnen in der Luft hingen.
Daneben erschien eine zweite Gestalt in anderer Kleidung. »Sie haben Ihr Bleiberecht verwirkt«, sagte sie in einer uralten Norte-Variante, die Volyova nicht sofort verstand und erst mühsam übersetzen musste.
»Sie müssen einsehen, Triumvir, dass dieses Reich nicht länger das Ihre ist«, meldete sich eine dritte Stimme. Gegenüber war eine weitere Gestalt zum Leben erwacht. Sie trug einen uralten Raumanzug ohne Helm, der über und über mit Kühlleitungen und kastenförmigen Zusatzgeräten bepflastert war, und sprach das älteste Russisch, das Volyova noch umsetzen konnte.
»Was wollen Sie hier erreichen?«, fragte die erste Gestalt. Daneben manifestierte eine neue Erscheinung, die auf Volyova einredete, und so ging es weiter, bis sie völlig von den Schatten der Vergangenheit umzingelt war. »Das ist unerhört…« Doch schon wurde die Stimme von einem weiteren Gespenst auf der rechten Seite übertönt.
»…dazu keine Vollmacht, Triumvir. Ich muss Ihnen sagen…«
»…Ihre Befugnisse erheblich überschritten und müssen sich nun…«
»…bitter enttäuscht, Ilia, und muss dich höflich bitten, dass du…«
»…Privilegien… entziehen…«
»…in keiner Weise akzeptabel…«
Die Stimmen vermischten sich und steigerten sich zu einem unartikulierten Gebrüll. Volyova begann zu schreien. Die Toten füllten jetzt den ganzen Raum. Wohin sie auch schaute, sie sah nur noch uralte Gesichter, und jedes bewegte die Lippen, als wäre es allein und wähnte sich im Besitz ihrer vollen Aufmerksamkeit. Sie flehten zu ihr wie zu einer allwissenden Gottheit, doch das Flehen war zugleich eine Klage. Zunächst klangen die Stimmen nörgelig und enttäuscht, doch alsbald wurde der Ton von Sekunde zu Sekunde gehässiger und verächtlicher, als hätte Volyova die ganze Gesellschaft nicht nur aufs Schändlichste im Stich gelassen, sondern obendrein ein so grausiges Verbrechen begangen, dass es nicht mit Worten auszudrücken war, sondern nur mit angewidert hochgezogenen Lippen und zutiefst beschämten Blicken angedeutet werden konnte.
Sie wog das Gewehr in den Händen. Die Versuchung, einen ganzen Patronengurt in die Gespensterschar zu jagen, war fast übermächtig. Töten konnte sie die Erscheinungen natürlich nicht, aber sie konnte ihre Projektionssysteme schwer beschädigen. Doch seit die Waffenkammer nicht mehr in Betrieb war, musste sie Munition sparen.
»Haut ab!«, schrie sie. »Lasst mich in Frieden!«
Ein Toter nach dem anderen verstummte und verschwand mit enttäuschtem Kopfschütteln, als ertrage er es nicht, noch länger in einem Raum mit ihr zu verweilen. Endlich war sie wieder allein. Rasselnd strich ihr der Atem durch die Kehle. Um sich zu beruhigen, zündete sich noch eine Zigarette an und rauchte sie langsam. Sie musste ein paar Minuten abschalten. Liebevoll streichelte sie das Gewehr. Gut, dass sie die Patronen nicht verschwendet hatte, auch wenn sie es in diesem Moment genossen hätte, die Brücke zu zerstören. Khouri hatte eine gute Wahl getroffen.
Die Seiten der Waffe waren mit silbernen und goldenen Drachenmotiven in chinesischem Stil verziert.
Aus der Projektionssphäre sprach eine Stimme.
Volyova blickte auf und sah in Sonnendiebs Gesicht.
Sie hatte gewusst, wie er aussehen musste, seit ihr Pascale die Bedeutung des Namens erklärt hatte. Es war genauso, wie sie gedacht hatte, und doch viel schlimmer. Denn sie sah das Alien nicht nur von außen. Sie sah auch, wie es sich selbst sah — und sie sah, dass Sonnendieb unter einer massiven Geistesstörung litt. Nagorny fiel ihr ein. Sie verstand, was den Mann in den Wahnsinn getrieben hatte, und konnte ihm kaum noch böse sein — nicht, wenn er die ganze Zeit dieses Wesen im Kopf gehabt hatte, ohne zu ahnen, woher es kam oder was es von ihm wollte. Nein; jetzt hatte sie Mitleid mit dem toten Waffenoffizier. Der arme Teufel war zu bedauern. Vielleicht wäre auch sie in eine Psychose gestürzt, wenn hinter jedem Traum, jedem wachen Gedanken dieses Gespenst gelauert hätte.
Sonnendieb mochte einst ein Amarantin gewesen sein. Aber er hatte sich verändert, vielleicht sogar gezielt, mit Hilfe der Gentechnik, die durch selektiven Druck aus ihm und seinen Stammesgenossen eine ganz neue Spezies gemacht hatte. Die Verbannten hatten ihre Anatomie für den Flug in der Schwerelosigkeit umgestaltet und sich riesige Flügel wachsen lassen. Volyova sah sie hinter dem schmalen, gerundeten Kopf aufragen, der sich zu ihr herabneigte.
Es war ein Totenkopf. Die Augenhöhlen waren nicht völlig leer und nicht völlig hohl, sondern bis zum Rand gefüllt mit einer unendlich tiefen Schwärze, die so dunkel und zugleich ohne Tiefe war, wie sie sich die Membranen der Schleierweber vorstellte. Sonnendiebs Knochen verbreiteten ein fahles Licht.
»Entgegen meinen früheren Äußerungen«, bemerkte sie, als sich der erste Schock gelegt oder zumindest auf ein erträgliches Maß abgeschwächt hatte, »hättest du inzwischen wohl eine Möglichkeit finden können, mich zu töten. Wenn du das wolltest.«
»Woher willst du wissen, was ich will?«
Seine Sprache war ein wortloses Nichts, wie aus Stille geschnitten, das aber doch irgendwie Bedeutung vermittelte. Die mehrfach gegliederten Kieferknochen bewegten sich nicht. Volyova erinnerte sich, dass die Sprache für die Amarantin nie das wichtigste Kommunikationsmittel gewesen war. Die gesellschaftlichen Beziehungen beruhten auf visuellen Verständigungsformen. Ein so grundlegendes Charakteristikum war sicher auch dann erhalten geblieben, als Sonnendieb mit seinem Schwarm Resurgam verlassen und die Transformationen eingeleitet hatte; jene radikalen Transformationen, die dafür sorgten, dass er und seinesgleichen für geflügelte Götter gehalten wurden, als sie nach langer Zeit auf ihre Welt zurückkehrten.
»Ich weiß, was du nicht willst«, sagte Volyova. »Du willst nicht, dass Sylveste daran gehindert wird, Cerberus zu erreichen. Deshalb müssen wir jetzt sterben; damit wir keinen Weg finden können, um ihn aufzuhalten.«
»Seine Mission ist von großer Bedeutung für mich«, sagte Sonnendieb. Dann verbesserte er sich: »Für uns. Die Überlebenden.«
»Und was habt ihr überlebt?« Vielleicht war dies ihre einzige Chance, die Verhältnisse wenigstens in Ansätzen zu verstehen. »Nein; warte — was könnte es anders sein als der Untergang der Amarantin? Ist es das? Habt ihr irgendeinen Weg gefunden, dem Tod zu entrinnen?«
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