Plötzlich war der Schacht verschwunden und sie stürzten ins Leere.
Bevor Volyova den Hangar erreichte, blieb sie an einem Fenster stehen und vergewisserte sich, dass ihr Armband keine von Sonnendieb manipulierten Daten zeigte, sondern dass die Fähren tatsächlich vorhanden waren. Die Transatmosphäreflieger mit den Plasmaflügeln steckten in ihren Haltebuchten wie die Pfeilspitzen in einer Pfeilschäfterwerkstatt. Sie könnte einen davon über das Armband starten, aber das wäre zu gefährlich. Wenn Sonnendieb aufmerksam wurde, wüsste er sofort, was sie vorhatte. Im Moment war sie noch einigermaßen in Sicherheit, denn sie hatte keinen Teil des Schiffes betreten, den Sonnendieb überwachen konnte. Hoffte sie jedenfalls.
Sie konnte auch nicht einfach auf ein Shuttle zuschlendern und an Bord gehen. Die normalen Zugangswege führten durch Teile des Schiffes, die sie nicht zu betreten wagte, weil dort Servomaten und Pförtnerratten frei umherstreiften, die in direkter biochemischer Verbindung mit Sonnendieb standen. Der Nadler war die einzige Waffe, die sie noch hatte. Das Projektilgewehr hatte sie Khouri überlassen. Obwohl sie an deren Fähigkeiten nicht zweifelte, ließ sich mit Können und Entschlossenheit allein nicht alles erreichen. Zudem hatte das Schiff inzwischen genügend Zeit gehabt, bewaffnete Drohnen zu fabrizieren.
Also begab sie sich zu einer Luftschleuse, die nicht ins All hinaus führte, sondern in den luftleeren Hangar. Der Schiffsschleim stand kniehoch im Raum, Beleuchtung und Heizung waren ausgefallen. Gut. Dann hatte Sonnendieb wenigstens keine Chance, sie von fern zu beobachten. Er konnte nicht einmal feststellen, wo sie war. Sie öffnete einen Spind und atmete auf. Der leichte Raumanzug war noch da, wo er hingehörte, und er war offenbar mit dem ätzenden Schiffsschleim nicht in Berührung gekommen. Er war nicht nur weniger sperrig als der Anzug, den Sylveste vermutlich genommen hatte, sondern auch weniger intelligent. Und er hatte keine Servosysteme und keinen integrierten Antrieb. Bevor sie ihn anlegte, sprach sie eine Reihe von — wohlüberlegten — Worten in ihr Armband, dann stellte sie es so um, dass es nicht mehr auf seine eigenen Akustiksensoren reagierte, sondern die Kommandos, die in ihren Kommunikator gesprochen wurden. Nun brauchte sie noch ein Rucksacktriebwerk. Sie nahm sich Zeit und sah sich die Schalter so gründlich an, als hoffe sie, ihrem Gedächtnis damit die Bedienungsanleitung entlocken zu können. Doch dann entschied sie, dass sie sich schon an die wichtigsten Handgriffe erinnern würde, wenn es so weit war. Sie verstaute den Nadler sorgfältig im Werkzeuggurt an der Außenseite des Anzugs, verließ in aller Ruhe die Schleuse und schwebte mit leichtem Schub, um nicht ans andere Ende getrieben zu werden, in den Hangar.
Da das Schiff nicht um Cerberus kreiste, sondern sich mit schwacher Triebwerksleistung an einer Stelle im All hielt, herrschte nirgendwo im Innern völlige Schwerelosigkeit.
Sei ging daran, sich ein Shuttle auszusuchen. Ihre Wahl fiel auf die kugelförmige Abschiedsmelancholie. An einer Seite des Hangars lösten sich zwei flaschengrüne Servomaten aus ihrer Verankerung und glitten auf sie zu. Es waren Freiflieger; Kugeln mit Krallen und Schneidewerkzeugen, spezialisiert auf Reparaturarbeiten an den Shuttles. Offenbar war sie beim Betreten des Hangars in Sonnendiebs Wahrnehmungsbereich geraten. Nun, das war nicht zu ändern, und sie hatte den Nadler nicht mitgebracht, um sich auf langwierige diplomatische Verhandlungen mit nicht empfindungsfähigen Maschinen einzulassen. Also schoss sie kurzerhand, wobei sie jedes Mal mehr als eine Salve brauchte, um ein kritisches System auszuschalten.
Die getroffenen Maschinen entschwebten qualmend durch den Hangar.
Sie drückte mit dem Daumen auf die Rucksackschalter und beschwor das Triebwerk, sie schneller vorwärts zu tragen. Die Melancholie wurde größer; sie konnte bereits die kleinen Warnschilder und technischen Hinweise auf dem Rumpf erkennen, die zumeist in ausgestorbenen Sprachen gehalten waren.
Eine weitere Drohne kam hinter dem Shuttle hervor, ein größeres, ockergelbes Ellipsoid mit eingeklappten Manipulatoren und Sensoren.
Sie zielte auf Volyova.
Alles erstrahlte in einem grellen Grün, das ihr die Augen zu verbrennen drohte. Das Ding bedrohte sie mit einem Laser. Sie fluchte — der Anzug hatte rechtzeitig abgedunkelt, aber jetzt war sie so gut wie blind.
Sie unterstellte einfach, dass er sie hören konnte. »Sonnendieb«, sagte sie. »Du machst einen schweren Fehler.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du wirst immer besser«, lobte sie. »Bei unserem letzten Gespräch war deineAusdrucksweise noch etwas unbeholfen. Was ist geschehen? Hast du auf die Übersetzungsprogramme für natürliche Sprachen zugegriffen?«
»Je mehr Zeit ich mit euch verbringe, desto besser lerne ich euch kennen.«
Ihre Sichtscheibe wurde wieder durchsichtig. »Jedenfalls gehst du geschickter vor als bei Nagorny.«
»Ich wollte ihn nicht mit Albträumen quälen.« Sonnendiebs Stimme war immer noch ein Nichts; ein hauchendes Flüstern vor dem weißen Rauschen statischer Elektrizität.
»Das glaube ich dir sogar.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Du willst auch mich nicht töten, richtig? Die anderen vielleicht — aber mich nicht; noch nicht. Nicht, so lange der Brückenkopf mich noch benötigen könnte.«
»Das ist vorbei«, sagte Sonnendieb. »Sylveste hat Cerberus betreten.«
Schlechte Nachrichten; sehr schlechte Nachrichten — auch wenn sie bei nüchterner Betrachtung seit einigen Stunden damit hatte rechnen müssen.
»Dann muss es einen anderen Grund geben«, sagte sie. »Einen anderen Grund, warum du den Brückenkopf offen halten willst. Es geht dir sicher nicht darum, Sylveste eine Möglichkeit zur Rückkehr zu sichern. Aber wenn der Brückenkopf zusammenbräche, würdest du vielleicht nicht mehr erfahren, wie weit er vorgedrungen ist. Und das willst du doch unbedingt wissen, nicht wahr? Du willst wissen, wie weit er kommt; ob er erreicht, was du immer von ihm wolltest.«
Sie entnahm Sonnendiebs Schweigen, dass sie nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Vielleicht wusste das Alien noch nicht, wie man sich aus der Affäre zog, vielleicht waren Ausflüchte eine typisch menschliche Strategie, die ihm unbekannt war.
»Überlass mir das Shuttle«, sagte sie.
»Ein Schiff dieser Konfiguration ist zu groß. Es kann nicht ins Innere von Cerberus vordringen, auch wenn du Sylveste damit verfolgen willst.«
Traute er ihr wirklich nicht zu, das selbst zu erkennen?
Für einen Moment hatte sie fast Mitleid mit Sonnendieb. Er konnte einfach nicht begreifen, wie der menschliche Verstand funktionierte. Er kam nur so lange zurecht, wie er mit Angst oder mit Belohnungen arbeiten konnte; mit Ködern also, die auf Emotionen beruhten. Seine Schlussfolgerungen waren in sich durchaus logisch — er überschätzte wohl nur die Bedeutung von Emotionen bei menschlichen Entscheidungen. Er bildete sich doch tatsächlich ein, er brauche Volyova nur klar zu machen, dass ihre Mission im Grunde selbstmörderisch sei, und schon würde sie davon Abstand nehmen und bereitwillig zu ihm überlaufen. Armes, bedauernswertes Monstrum, dachte sie.
»Ich habe ein Wort für dich«, sagte sie und ging auf die Luftschleuse zu, ohne sich von der Drohne beirren zu lassen. Und dann sprach sie das Wort aus. Die Beschwörungen, mit denen es eingeleitet werden musste, um seine Wirkung zu tun, hatte sie bereits vorweggenommen. Sie hatte nicht erwartet, das Wort in diesem Kontext jemals gebrauchen zu müssen. Aber sie hatte es schon einmal verwendet, und auch damals hatte sie nicht damit gerechnet; noch überraschender war, dass sie sich überhaupt daran erinnerte. Doch die Zeit des Berechenbaren war für Volyova endgültig vorbei.
Das Wort hieß Palsy.
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