»Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Vielleicht verfalle ich erneut in Katatonie. Ich fühle mich sehr verloren, Louis.«
»Mir geht es nicht besser. Nun gut. In den letzten drei Stunden haben wir ungefähr zweitausendzweihundert Meilen zurückgelegt. Mit Transferkabinen hätten wir das schneller geschafft. Oder mit Stepperscheiben.«
»Unsere Ingenieure hatten leider keine Gelegenheit, Scheiben aufzustellen.« Die beiden Puppenspielerköpfe blickten sich gegenseitig in das Auge. Sie behielten die Position nur einen kurzen Moment, doch Louis hatte diese Geste schon öfters beobachtet.
Vorläufig nahm er an, daß es sich um das PuppenspielerÄquivalent eines Lachens handelte. Konnte ein verrückter Puppenspieler einen Sinn für Humor entwickeln?
»Wir fliegen nach Backbord«, fuhr Louis fort. »Der-zu-den-Tierenspricht entschied, daß der backbords gelegene Randwall näher ist. Ich schätze, wir hätten das genausogut entscheiden können, indem wir eine Münze warfen. Aber Der-zu-den-Tieren-spricht ist jetzt der Boß. Er übernahm das Kommando, als Sie in Katatonie fielen.«
»Eine unglückliche Entscheidung! Sein Flugrad ist außerhalb der Reichweite meines Tasps. Ich muß…«
»Augenblick mal. Warum lassen Sie ihm denn nicht einfach das Kommando?«
»Aber… aber… aber…«
»Denken Sie drüber nach«, drängte Louis. »Sie können immer Ihr Veto einlegen, indem Sie den Tasp benutzen. Wenn Sie ihm nicht das Kommando geben, wird er es jedesmal wieder an sich reißen, wenn Sie in Katatonie fallen oder sich ausruhen. Wir brauchen einen Anführer, der nicht dauernd angefochten wird.«
»Ich vermute, es kann nicht schaden«, flötete der Puppenspieler. »Es macht kaum einen Unterschied, ob ich Hinterster bin oder er. Unsere Chancen ändern sich dadurch nicht wesentlich.«
»Richtig so. Rufen Sie den Kzin und teilen Sie ihm mit, daß er jetzt der Hinterste ist!«
Louis schaltete sich in den Interkom von Der-zu-den-Tierenspricht, um den Wortwechsel zu verfolgen. Wenn er eine heftige Diskussion erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Der Kzin und der Puppenspieler wechselten ein paar zischende, spuckende Phrasen in der Heldensprache, und der Kzin ging aus der Leitung.
»Ich muß mich entschuldigen«, setzte Nessus das Gespräch unter vier Augen fort. »Meine Dummheit hat uns nichts als Katastrophen eingebracht.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, tröstete ihn Louis. »Sie sind in Ihrer depressiven Phase, das ist alles.«
»Ich bin ein intelligentes Wesen und kann die Wahrheit vertragen. Ich habe mich schrecklich geirrt, was Teela Brown angeht.«
»Mag sein, aber das war nicht Ihr Fehler.«
»Doch, es war mein Fehler, Louis. Ich hätte erkennen müssen, weshalb ich Schwierigkeiten hatte, andere Kandidaten außer Teela Brown zu finden.«
»Aha?«
»Die anderen hatten zuviel Glück!«
Louis pfiff leise durch die Zähne. Der Puppenspieler hatte eine brandneue Theorie entwickelt.
»Genauer gesagt«, fuhr Nessus fort, »hatten sie zuviel Glück, um in ein so gefährliches Unternehmen wie das unsrige verwickelt zu werden. Die Geburtsrechts-Lotterie hat nämlich tatsächlich ein physisches, vererbbares Glück hervorgebracht. Nur war es für mich nicht faßbar. Als ich versuchte, mit den Lotteriefamilien Kontakt aufzunehmen, fand ich einzig und allein Teela Brown.«
»Hören Sie…«
»Ich habe die anderen nicht antreffen können, weil sie zuviel Glück hatten. Ich traf Teela Brown, und es gelang mir, sie zu dieser Expedition zu überreden, weil sie das Glück eben nicht geerbt hat. Louis, bitte entschuldigen Sie.«
»Ach, legen Sie sich lieber schlafen!«
»Ich muß mich auch bei Teela Brown entschuldigen.«
»Nein. Das war meine Schuld! Ich hätte sie aufhalten können.«
»Wirklich?«
»Hm — vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Legen Sie sich schlafen!«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Dann übernehmen Sie das Steuer, und ich schlafe.«
So geschah es. Ehe Louis die Augen schloß, wunderte er sich noch, wie sanft das Flugrad flog. Der Puppenspieler war ein exzellenter Pilot.
Louis erwachte mit dem ersten Tageslicht.
Er war nicht daran gewöhnt, unter Schwerkraft zu schlafen. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Nacht im Sitzen verbracht. Als er gähnend zu sich kam und sich zu strecken versuchte, schienen seinen Muskeln unter der Anspannung zu zerreißen. Stöhnend rieb er sich die verklebten Augen und blickte sich um.
Die Schatten waren eigenartig; das Licht noch eigenartiger. Louis sah nach oben und entdeckte einen schmalen weißen Streifen Mittagssonne. Dummkopf, schalt er sich, während er darauf wartete, daß seine Augen aufhörten zu tränen. Seine Reflexe arbeiteten schneller als sein Gehirn.
Zu seiner Linken war alles dunkel und mit zunehmender Entfernung noch dunkler. Der fehlende Horizont war eine Schwärze aus Nacht und Chaos unter einem navyblauen Himmel, in dem der Ringweltbogen nur noch schwach leuchtete.
Rechts von ihm — spinwärts — herrschte heller Tag.
Die Dämmerung auf der Ringwelt war anders als auf anderen Welten.
Die Wüste blieb links und rechts in einer scharfgezeichneten Wellenlinie zurück. Hinter den Flugrädern schimmerte grell und öde fahlweißer Sand. Der riesige Berg verdeckte noch immer ein gewaltiges Stück Horizont. Weit voraus in Flugrichtung tauchten Flüsse und Seen auf, dazwischen grüne und braune Flecken Land.
Die Flugräder hatten ihre Formation eingehalten: ein weit auseinandergezogenes Trapez. Auf die Entfernung hin sahen sie alle gleich aus, wie silberne Käfer. Louis flog an der Spitze. Seiner Erinnerung nach hatte Der-zu-den-Tieren-spricht die Position spinwärts; Nessus flog antispinwärts und Teela bildete die Nachhut.
Spinwärts vom Riesenberg hing eine graue Staubwolke wie die Spur eines Bodenfahrzeugs, das eine Wüste durchquerte, nur größer. Sie mußte auch größer sein, obwohl sie auf diese Entfernung wie ein dünner Faden wirkte…
»Sind Sie wach, Louis?« flötete der Puppenspieler.
»Guten Morgen, Nessus. Sind Sie die ganze Nacht durchgeflogen?«
»Vor ein paar Stunden übergab ich das Steuer an den Kzin. Sie werden feststellen, daß wir bereits über siebentausend Meilen zurückgelegt haben.«
»Ja.« Es war nur eine Zahl, ein Bruchteil der Strecke, die sie noch zurücklegen mußten. Ein Leben mit dem Netz von Transferkabinen hatte Louis’ Gefühl für Entfernungen ruiniert.
»Schauen Sie mal nach hinten«, forderte er den Puppenspieler auf. »Sehen Sie diese Staubwolke? Haben Sie eine Idee, was das sein könnte?«
»Selbstverständlich. Verdampftes Gestein von unserer Kometenlandung. Es kondensiert in der Atmosphäre und hatte noch nicht genügend Zeit, sich aus so großer Höhe wieder zu legen.«
»Oh. Ich hatte eher an Sandstürme gedacht… Tanj! Sehen Sie nur, wie weit wir gerutscht sind!« Die Staubwolke war einige tausend Meilen lang, wenn sie so weit entfernt war wie das Schiff.
Himmel und Erde glichen zwei unendlich großen, zusammengepreßten Platten, und die kleine Gruppe war nichts als Mikroben, die zwischen diesen Platten krochen…
»Der Luftdruck hat zugenommen.«
Louis riß sich vom Anblick des Fluchtpunkts los. »Was haben Sie gesagt?«
»Sehen Sie auf Ihren Druckmesser. Wir müssen uns mindestens zwei Meilen über unserer augenblicklichen Flughöhe befunden haben, als wir landeten.«
Louis wählte einen Nahrungsriegel zum Frühstück. »Ist der Luftdruck denn so wichtig?«
»In einer unbekannten Umgebung muß man auf alles achten. Das kleinste Detail kann von entscheidender Bedeutung sein. Zum Beispiel ist der Berg, den wir als Orientierungspunkt gewählt haben, viel größer, als wir ursprünglich angenommen hatten. Und was halten Sie von diesem silbern glänzenden Punkt weiter vorne?«
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