»Sie sind ein kleiner Feigling«, tadelte sie den verängstigten Puppenspieler. »Kommen Sie schon, zeigen Sie sich! Sehen Sie mich an! Ihnen entgeht ja der ganze Trubel!«
Zwölf Stunden später befand sich Nessus noch immer im Zustand der Katatonie. »Wenn ich ihm gut zurede, rollt er sich nur noch fester zusammen.« Teela war den Tränen nahe. Sie hatten sich zum Abendessen in ihre Kabine zurückgezogen, doch Teela brachte nichts hinunter. »Ich mache es falsch, Louis. Ich weiß es!«
»Du betonst dauernd die Aufregung. Nessus ist nicht auf Aufregungen aus«, erklärte ihr Louis. »Vergiß es. Er tut niemandem weh. Wenn wir ihn brauchen, wird er sich schon aufrollen, und wenn es nur ist, um sein Leben zu verteidigen. Soll er bis sich dahin ruhig in seinem Bauch verstecken.«
Teela ging unglücklich auf und ab. Es war ein halbes Taumeln — sie hatte sich noch immer nicht richtig an den Unterschied zwischen Schiffsgravitation und Erdschwere gewöhnt. Sie setzte an zu reden, überlegte es sich anders, überlegte erneut und sprudelte dann hervor: »Hast du Angst?«
»Ja.«
»Dachte ich mir.« Sie nickte und ging wieder auf und ab. Schließlich fragte sie: »Warum hat Der-zu-den-Tieren-spricht keine Angst?«
Weil der Kzin seit dem Angriff nicht mehr zur Ruhe gekommen war: Waffenbestand katalogisieren, einfache trigonometrische Berechnungen, um den Kurs festzulegen, gelegentlich knappe, rationale Befehle, die augenblicklichen Gehorsam verlangten.
»Ich glaube, der Sprecher-zu-den-Tieren leidet unter entsetzlicher Angst. Erinnerst du dich noch, wie er reagierte, als er die Welt der Puppenspieler zum ersten Mal sah? Er hat Angst, aber er will nicht, daß Nessus es weiß.«
Teela schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht! Das begreife ich einfach nicht! Warum hat jeder außer mir Angst?«
Liebe und Mitleid stritten in Louis wider und verursachten einen Schmerz, der so alt, so fast vergessen war, daß er sich schon beinahe wieder neu anfühlte. Ich bin neu hier, und alle wissen Bescheid, nur ich nicht! Er versuchte, es ihr zu erklären: »Nessus hatte nicht ganz unrecht. Du hast dich in deinem Leben niemals verletzt, oder? Du hattest zuviel Glück, um verletzt zu werden. Wir haben Angst, uns zu verletzen, und das kannst du nicht verstehen, weil du niemals diese Erfahrung gemacht hast.«
»Das ist verrückt! Ich habe mir nie einen Knochen oder sonstwas gebrochen, aber das ist doch keine PSI-Kraft oder etwas in der Art!«
»Nein. Glück hat nichts mit PSI zu tun. Glück ist eine statistische Größe, und du bist ein mathematischer Glückspilz. Es gibt dreiundvierzig Milliarden Menschen im Bekannten Weltraum. Es hätte mich überrascht, wenn Nessus niemanden wie dich gefunden hätte. Verstehst du nicht, was er getan hat?
Er suchte gezielt nach Nachkommen von Gewinnern der Geburtsrechts-Lotterie. Er sagt, es gäbe Tausende, doch ich gehe jede Wette ein: Wenn er unter all diesen Tausenden nicht gefunden hätte, wonach er suchte, dann wäre er die Gruppe durchgegangen, bei der nur einer der Vorfahren seine Geburt der Lotterie verdankt. Das hätte ihm eine millionenfache Auswahl beschert…«
»Was hat er denn nun wirklich gesucht?«
»Dich. Er fing mit den paar tausend Leuten an, die in Frage kamen, und eliminierte all diejenigen, die irgendwann mal Pech hatten. Hier einer, der sich mit dreizehn den Finger gebrochen hat. Dort ein Mädchen mit psychischen Problemen. Ein anderes mit Akne. Der Mann gerät in Streitereien und verliert. Der andere gewinnt, aber er verliert anschließend den Prozeß. Ein Bursche, der Modellraketen steigen ließ, bis er sich den Daumennagel verbrannte. Ein Mädchen, das ständig beim Roulette verliert… verstehst du jetzt? Du bist das Mädchen, das immer Glück gehabt hat. Bei dir fiel der Toast nie auf die gebutterte Seite.«
Teela blickte ihn nachdenklich an. »Es hat was mit Wahrscheinlichkeit zu tun, ja? Aber Louis, ich gewinne nicht immer beim Roulette.«
»Aber du hast auch nie soviel verloren, daß es dir weh getan hat.«
»N-nein.«
»Und genau danach hat Nessus gesucht.«
»Du willst damit sagen, daß ich eine Art Mißgeburt bin!«
»Tanj nein! Ich sage genau das Gegenteil! Nessus eliminierte immer weiter Kandidaten, die Pech gehabt haben, bis er bei dir landete. Er meint, er habe eine neues grundlegendes Prinzip entdeckt. Was er in Wirklichkeit entdeckt hat, ist das ganz weit außen liegende Ende einer Gaußschen Normalverteilung.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung sagt, daß es dich geben muß. Sie sagt auch, daß deine Chance zu verlieren, wenn du das nächste Mal eine Münze wirfst, genauso hoch ist wie meine: Fünfzig Prozent. Madame Glück besitzt nämlich kein Gedächtnis.«
Teela ließ sich in einen Sessel fallen. »Ein schöner Glücksbringer bin ich! Der arme Nessus. Ich habe bei ihm versagt.«
»Geschieht ihm recht.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Wir könnten es herausfinden.«
»Was?«
»Nimm eine gebutterte Scheibe Toast. Wir werfen sie hoch.«
Die Schattenblende war schwärzer als schwarz — ein Schwarz von der schwer herstellbaren, definitiven Sorte, die man in der Schule bei Experimenten mit Schwarzen Körpern einsetzt. Eine Ecke schob sich in scharf umrissenem Winkel über das blau durchbrochene Band der Ringwelt. Mit dieser Ecke als Anhaltspunkt waren Auge und Gehirn imstande, sich den Rest der Blende auszumalen — ein schmales rechteckiges Stück Weltraumschwärze ohne jeden Stern darin. Schon überdeckte es einen beträchtlichen Teil des Blickfelds, und es wuchs weiter.
Louis trug gewölbte Augengläser aus einem Material, das sich partiell verdunkelte, wo zuviel kohärentes Licht auftraf. Die Polarisation der Schiffshülle reichte nicht mehr aus. Der-zu-den-Tierenspricht war im Kontrollraum und kontrollierte, was von den Instrumenten noch zu kontrollieren war. Er trug ebenfalls eine Brille. Sie hatten zwei einzelne Gläser mit jeweils einem kurzen Gummiband daran gefunden und sie Nessus mit sanfter Gewalt auf die Köpfe gezwungen.
Für Louis mit seiner Brille war die nur zwölf Millionen Meilen entfernte Sonne ein verschwommener Flammenring rings um eine große schwarze Scheibe. Alles war so heiß, daß man es kaum anfassen konnte. Die Lufterneuerer heulten wie ein Wirbelsturm.
Teela öffnete ihre Kabinentür und schloß sie hastig wieder. Als sie erneut hervorkam, trug sie ebenfalls eine Brille. Sie gesellte sich zu Louis am Tisch in der Lounge.
Die Schattenblende war ein bedrohliches Nichts. Es war, als wäre jemand mit einem nassen Tuch über eine schwarze Tafel gegangen und hätte einen Streifen aus Kreidesternen ausgewischt.
Das Heulen der Klimaanlage machte jede Unterhaltung unmöglich.
Wie entledigte sich die Klimaanlage nur ihrer Abwärme, wo die Sonne draußen so heiß war wie ein Hochofen? Überhaupt nicht, entschied Louis. Sie mußte die Hitze speichern. Irgendwo im Lufterneuerungssystem war eine Stelle, die so heiß war wie ein Stern und mit jeder Sekunde heißer wurde.
Eine Sache mehr, um die sie sich sorgen mußten.
Das schwarze Rechteck wuchs weiter.
Es war die schiere Größe, die es scheinbar so langsam näher kommen ließ. Die Schattenblende war so breit wie die Sonne, fast eine Million Meilen, und ein gutes Stück länger: zweieinhalb Millionen Meilen. Beinahe unvermittelt wurde sie gigantisch. Ihr Rand glitt über die Sonne, und plötzlich herrschte Dunkelheit.
Die Schattenblende verdeckte das halbe Universum. Ihre Ränder waren ein vages, schrecklich anzusehendes Schwarz in Schwarz.
Hinter dem Kabinenblock glühte ein Teil des Schiffes weiß. Die Lufterneuerungsanlage strahlte Abwärme ab, solange sie Gelegenheit dazu hatte. Louis zuckte die Schultern und wandte sich ab, um die Schattenblende zu beobachten.
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