Michael Wireman konnte ihre Gedanken natürlich nicht lesen. Er sah lediglich, daß er erkannt worden war, daß sie schwankte und nicht wußte, was sie tun sollte. Er mußte sie ablenken. Gut wäre ja zu wissen, was draußen vorging. Aber wie sollte er Mrs. Lemmon an sich binden, damit sie nicht sofort zum Feind lief, sobald sie aus seinen Augen war?
»Ach, würden Sie bitte mal hinaufgehen und schauen, ob keine Blutspuren zu Ihrer Tür führen?« meinte er.
Er hatte jetzt nicht mehr Recht als vor seinen Überlegungen, frei herumzulaufen, aber wenn die Welt voller Menschen war, die ebenfalls Dinge getan hatten, die sie bereuten, und die trotzdem weiterlebten, dann war er noch nicht bereit aufzugeben.
Mrs. Lemmon errötete schuldbewußt, verärgert über ihre momentane Unentschlossenheit. »Natürlich«, sagte sie mit entschuldigendem Blick auf seine Bandagen. »Ich bin bald zurück.« Sie eilte die Kellertreppe hinauf.
Michael Wireman beobachtete sie und machte sich gar keine Sorgen mehr um ihre Rückkehr. Er wußte, sie würde zurückkommen. Eigentlich war ihm alles gelungen, was er vorgehabt hatte. Obwohl er nicht genau verstand, wieso es so einfach gehen konnte, war doch dankbar, daß es möglich gewesen war. Offensichtlich gab er ihr etwas, wonach sie hungerte, was einen wesentlichen, leeren Teil ihres Lebens ausfüllte.
Es stimmte ihn traurig, daran zu denken, daß jedes menschliche Wesen so unzufrieden mit allem sein könnte, daß sogar ein Mann in Michael Wiremans Lage willkommen war. Er wäre aber kein Mensch gewesen, hätte er sich zur gleichen Zeit nicht gefreut.
Aber was nun? Wohin konnte er gehen, und wenn er ging, was sollte aus Mrs. Lemmon werden?
Sachte schlüpfte er wieder ins Hemd. Er mußte nachdenken und einen für beide Teile zufriedenstellenden Plan formulieren. Aber welche Mittel hatte er?
Und wohin sollte er gehen? Welche Möglichkeiten gab es noch?
Er hob kaum den Kopf, als Mrs. Lemmon zurückkam.
»Alles in Ordnung«, sagte sie atemlos. »War nichts zu sehen.«
»Danke«, sagte er. »Was machen die Fremden?«
»Sehen konnte ich nichts«, sagte sie, »aber ich hörte Pfiffe und Menschen die Straßen entlanglaufen. Und eine ganze Anzahl Streifenwagen fuhr mit Sirenengeheul vorbei.«
Er horchte. »Ja, das kann ich hören«, bestätigte er und bemerkte überrascht, daß sie sofort verärgert dreinschaute, als hätte er ihr einen Verweis gegeben, seine kostbare Zeit nicht mit ohnedies vernehmbaren Vorgängen zu beanspruchen. Aber so deutlich vernehmbar war das nun auch wieder nicht. Das Geräusch war hier unten so schwach zu hören, daß es einem anderweitig beschäftigten Menschen ohne weiteres entgehen konnte.
Er konnte sie doch nicht ständig mit langen Erklärungen beruhigen. So viel Zeit hatte er nicht. Sie schien ihre Haltung jedoch bald zu bereuen. Offensichtlich sah sie immer nachher ihre eigenen Unzulänglichkeiten ein, sowohl die tatsächlichen als auch die eingebildeten. Wie sehr sie mir doch ähnlich ist! dachte er.
Was vorhin Theorie gewesen war über die Menschen der Welt im allgemeinen, sah er nun praktisch angewandt am Individuum.
Er verstand Mrs. Lemmon jetzt besser. Wenn er sie jeweils so behandelte, wie er sich selbst behandelt hätte, und so viel von ihr erwartete wie von sich selbst, so würden sie wahrscheinlich gut miteinander auskommen.
»Ich weiß nicht, was all dieser Lärm bedeutet«, sagte sie vorfühlend.
»Sie werden Kontrollpunkte errichten, glaube ich«, antwortete er zerstreut, die verschiedenen Möglichkeiten erwägend. »Zuerst werden sie die Straßen absperren und dann jeden Häuserblock umstellen, so daß sie in Ruhe suchen können, ohne befürchten zu müssen, daß der Gesuchte hinter ihren Rücken hinausschlüpft.«
Das war alles nur Theorie für ihn, und er konnte vollkommen unberührt darüber sprechen. In diesem Augenblick entsprach er ganz Mrs. Lemmons Romanhelden: die entspannte Nachdenklichkeit, das abstrakte Theoretisieren, die Beherrschung militärischer Prinzipien.
Sein zur Schau getragenes Wissen war nicht echter als das eines Berufsschauspielers, der aus einem Manuskript liest. Und was ein Kontrollpunkt wirklich war, wußte er genauso wenig wie Mrs. Lemmon.
Echt waren nur er und Mrs. Lemmon, die mit ihm hier in der Patsche aß.
Michael Wireman schaute sie an und sah, daß sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, so geblendet, daß es jetzt gar nichts mehr ausmachte, wie er aussah oder welche Gewohnheiten er hatte.
Es war erfreulich, sogar erheiternd, das Objekt so großer Hochachtung zu sein, und wieder eine Enthüllung. Aber er hatte seine Kapazität erschöpft, alles bis ins Detail zu analysieren. Er war müde, verletzt und hatte Angst. Daß sie so viel von ihm erwartete, bedeutete eine weitere Bürde für ihn.
Er mußte von hier herauskommen, bevor sich das Netz um ihn zusammenzog. Und wollte er Mrs. Lemmon vor jeder Strafe bewahren, so blieb nur eins übrig: sie mitzunehmen.
Soweit war alles klar. Er mußte Philadelphia verlassen und Mrs. Lemmon in seinen Plänen berücksichtigen. Er fragte sie nicht, ob sie bereit war, mit ihm zu kommen. Es war so das Beste für sie.
Hätte er Zeit gehabt zu erforschen, warum sie sogar willig ihren Laden verlassen, ihren Platz in der Gemeinschaft, all die Bindungen des gewohnten Lebens aufgeben wollte, so wäre er draufgekommen, daß sie schon lange Witwe war und vom mageren Einkommen lebte, das sich aus einer Rente und den Erträgnissen des Geschäftes zusammensetzte; daß sie schon jahrelang von der Angst verfolgt wurde, noch nicht gestorben zu sein, wenn der unvermeidliche Wiederaufbau Philadelphias ihr Laden und Haus nehmen würde, in dem sie dreißig Jahre lang gewohnt hatte. Ihr Alptraum war, dann weiterleben zu müssen, ohne die vertrauten Dinge um sich, in irgendeinem Haus, das sie Heim nennen würde. Mit der Ablösung für den Laden würde sie natürlich versuchen, den Rest ihres Lebens auf die Art der Siebzigjährigen zu verbringen: bei Spaziergängen, Kartenspielen, in Florida, während sie viel lieber alles beim alten hätte.
Deshalb wollte sie von vorn anfangen, wenn schon nicht von dem Anfang, so doch von irgendeinem Anfang. Sie wollte von selbst gehen und nicht hinausgeworfen werden, sie wollte selbst handeln und nicht von anderen dazu genötigt werden — so gut sie es eben vermochte.
Einmal sagte sie zu Michael Wireman: »Ich habe gewußt, daß es wirklich Menschen wie Sie gibt, und deshalb diese zurechtgemachten Romane über Menschen wie Sie gelesen.« Erst viel später erkannte er den Sinn dieser scheuen Erklärung.
Michael Wireman hatte jetzt keine Zeit mehr nachzudenken, da er handeln mußte. Er konnte sich nicht länger den Luxus leisten, darauf zu warten, daß ihm andere Freiheit oder Tod brachten.
* * *
»Aber wie sollen wir entkommen?« fragte Mrs. Lemmon zitternd.
»Ich weiß …« Beinahe hätte er gesagt: »Ich weiß nicht.« Aber das hätte ihr Vertrauen in ihn erschüttert, was für beide nicht gut gewesen wäre.
Und ist das der einzige Grund? dachte er. Bin ich nicht vielleicht eitel darauf, ihr Führer zu sein?
Das erinnerte ihn an Franz Hammil und war etwas zum Nachdenken, nicht jetzt, aber später, zum Nachdenken und Prüfen. Am Anfang gäbe es bestimmt eine Menge Zweifel, die zu beseitigen er jedes gesprochene Wort und jede Tat auf ihren Gehalt an Egoismus würde untersuchen müssen. Vorläufig jedoch sagte er zu sich: »Glaube nicht, daß es unmöglich sein wird.«
Aber wie sollte er mit ihr fliehen, und wie einen Plan zurechtlegen, ohne ihr zu zeigen, daß Ideen nicht wie Blitze in seinem Gehirn aufzuckten, wie sie es von ihm erwartete?
Das brachte ihn auf einen neuen und originellen Trick. »Betrachten wir einmal die Situation«, sagte er mit freundlicher Pedanterie, als nähme er sich absichtlich Zeit, sie zu unterrichten. Dankbar sah er, wie sie entzückt nickte.
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