Was Michael Wireman jetzt noch weitertrieb, war der Drang, vor der Gefahr zu fliehen: ein Drang, den jeder Übeltäter verspürt. In diesem Augenblick hatte er keine Ideale und politischen Ziele. Er lief und zermarterte sein Gehirn nach einem Ausweg um den andern — nicht um seiner Überzeugung willen, sondern um sein Leben zu retten.
Der Korporal war beim Wagen des Arztes stehengeblieben. »Hier«, sagte er.
Michael Wireman nickte. »In Ordnung, öffnen Sie die Tür.« Sie standen nun inmitten von Wagen, und die Möglichkeit, daß jemand etwas Verdächtiges bemerken könnte, war sehr gering.
Der Korporal gehorchte und trat dann auf einen Wink mit der Pistole zurück, während Michael Wireman in den Wagen schaute und die Steuerung zu ergründen suchte. Sie schien einfach zu sein. Michael Wireman nickte wieder. »Gut«, sagte er, »drehen Sie sich um.«
Der Korporal wußte, was kommen würde. Er drehte sich um und begann zu laufen. Michael Wireman mußte vier rasche, große große Sprünge machen, bevor er ihn erreichen und mit dem Pistolengriff betäuben konnte.
Das Geräusch ihrer eilenden Schritte war deutlich vernehmbar gewesen. Michael Wireman duckte sich mit einsatzbereiter Pistole. Dann lachte er schallend: »Passen Sie auf! Stolpern Sie nicht wieder über Ihre großen, ungeschickten Füße.«
Hatte einer der Mechaniker den Lärm gehört, so ging er daraufhin wieder beruhigt an seine Arbeit zurück. Michael Wireman stieg in den Wagen des Arztes und drehte den Zündschlüssel. Durch die Windschutzscheibe sah er einen gelangweilten Soldaten vor dem Pult des Korporals stehen. Wahrscheinlich brauchte er eine Erlaubnis, in die Garage gehen zu dürfen. Dann drückte er auf den Anlasser.
Während er der Rampe zufuhr, die zur Straße hinaufführte, kam der Alarm. Ein Mißklang von Glocken erfüllte die Garage und vermutlich das ganze Gebäude. Vielleicht hatte Hobart ihn jetzt ausgelöst.
Michael Wireman trat blindlings aufs Gaspedal und verdrehte das Lenkrad zu stark, als er auf die Rampe fuhr. Der Wagen raste die Wand entlang mit quietschenden Reifen und splitterndem Lack. Michael Wireman prallte mit dem Kopf gegen einen Pfosten, fiel dann wieder aufs Lenkrad, umklammerte dieses verzweifelt mit verwundetem Schädel und zerschundener Brust, bis er den Wagen endlich wieder unter Kontrolle hatte. Die ganze linke Seite war eingedrückt, die vordere Stoßstange schnitt unerbittlich in die Reifen. So arbeitete sich der Wagen der Straße zu.
Erschüttert, verwirrt und blutend kämpfte er sich mit dem Wagen durch ein offenstehendes Tor. Rufe ertönten hinter ihm, aber niemand schoß. Natürlich, die Mechaniker hatten ja keine Waffen, und der Soldat, der geduldig vor dem Pult des Korporals wartete, war auch unbewaffnet, außer er war im Dienst.
Der Wagen mühte sich die Straße hinunter, einen Chromstreifen nachschleifend. Michael Wireman konnte ihn nicht beschleunigen, obwohl er das Gaspedal ganz durchdrückte. Als er bei der nächsten Kreuzung bei dichtem Verkehr einbog, befreite sich der vordere linke Reifen einen Augenblick lang und der Wagen schoß jäh vorwärts, wobei es ihm den Kopf zurückwarf. Als er dann den Wagen geradeaus lenkte, wurde der Reifen wieder erfaßt. Bebend verlangsamte der Wagen seine Geschwindigkeit auf etwa vierzig Kilometer pro Stunde und schleuderte Michael Wireman wieder nach vorn. Das Lenkrad war aus Weichplastik, brach ihm aber dennoch das Nasenbein.
Jetzt hörte er den ersten Schuß, abgefeuert vom Verkehrspolizisten auf der Kreuzung, der die Lage instinktiv erfaßt hatte. Der Schuß war in die Luft abgegeben worden, eine Warnung also, aber Michael Wireman konnte das ja nicht wissen. Mit verkrampften Gesichtsausdruck, vor sich rote Punkte sehend, fuhr er in ein enges Gäßchen. Nicht einmal diesen Fremden war es gelungen, Philadelphia vollkommen neu aufzubauen. Zwischen den kahlen Mauern durchfahrend, öffnete er die Tür auf der rechten Seite, mit seiner beinah hilflosen linken Hand steuernd, den linken Fuß am Gaspedal, rutschte er hinüber und suchte verzweifelt nach einem Spalt zwischen den Gebäuden — nach irgendeinem Fluchtweg.
Er sah ihn, den Spalt zwischen einem alten Haus und der grünbemalten Bretterwand um den Baugrund eines neuen. Er sprang aus dem fahrenden Wagen, der anschließend eine Gebäudewand streifte und dann irgendwo anprallte. Damit hoffte er, seine Verfolger um eine, vielleicht sogar um zwei oder drei Minuten aufhalten zu können.
Er rollte über den schmalen Gehsteig, bis er sich am Pfosten einer Parkverbotstafel eine Rippe brach. Atemringend zwang er sich hoch und taumelte in den willkommenen Spalt.
Er hielt sich aufrecht, indem er sich ständig mit der rechten Hand an den Brettern stützte. So brachte er sich mühsam weiter und hoffte, nochmals irgendwo hineinschlüpfen zu können. Nie hatte er geglaubt, mit dem Wagen aus der Stadt zu kommen. Nie hatte er erwartet, damit weiter als ein paar Häuserblocks fahren zu können, aber er hatte gehofft, er würde genügend Zeit haben, seine weitere Flucht zu planen.
Jetzt brauchte er schnellstens Unterschlupf — nicht nur für kurze Zeit, sondern für Tage. Jetzt war er wieder nahe daran aufzugeben.
Der Schutz bot sich ihm von selbst an. Er kam zu einem düsteren, winzigen abfallüberladenen Hof. Einige Stufen führten hinauf zu einer teilweise offenstehenden Tür. Darüber stand in matten Lettern:
»Mrs. Lemmon’s Teashop. Konditorei.«
Auf den schmutzigen Holzstufen, einen Teller Milch für die hungrige Katze abstellend, stand eine ältliche Frau und riß die Augen auf. Sie starrte auf diese Erscheinung, die von einem anderen Universum kommen mußte, und wußte nicht, wie sie reagieren sollte.
»Du lieber Himmel!« rief sie aus. »Was ist? Was geht da vor?«
Michael Wireman sah keine andere Möglichkeit, als ihr die Wahrheit zu sagen. Würde er sich als feindlicher Soldat ausgeben, so hätte sie ihn nach wenigen Minuten durchschaut.
»Ich bin ein freier Erdenbürger«, keuchte er. »Aus dem feindlichen Hauptquartier entflohen!«
»Freier Erdenbürger! Ein Rebell !«Ihre Züge drückten Verachtung aus. »Schauen Sie, daß Sie weiterkommen, fort von hier!«
Aber irgend jemand kam bereits hinter ihm her. Michael Wireman konnte das Klappern von Schuhsohlen hören. Im nächsten Augenblick mußte er um die Ecke biegen.
Michael Wireman wollte nach seiner Pistole langen, wurde aber plötzlich schwindelig, konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, den verwundeten Kopf zurückgeworfen, die wäßrigen Augen hoffnungslos auf die Frau gerichtet.
»O Gott! Sie sind ja verletzt!« schrie sie. »Was hat man Ihnen angetan?«
Michael Wiremans Wangen waren über und über blutig. Hautstellen waren nur dort zu sehen, wo Tränen Furchen hineingewaschen hatten. »Feind — Feind —« keuchte er. »Verhörten mich — Folterten … Schlugen mich … Brach aus …«
»Sie armer Junge!« rief die Frau aus. »Diese Brut! Hier — Schnell! Gehen Sie hinein. Verstecken Sie sich im Keller.« Sie zog ihn hinauf, so gut sie konnte, und schob ihn zur Tür. Michael Wireman stolperte dankbar hinein.
* * *
Mrs. Lemmon beugte sich aufmerksam über den Teller Milch, zwang sich, nicht auf das aufgeregte Pochen ihres Herzens zu achten. Lockend begann sie die erschrockene Katze zu rufen: »Mutz, Mutz, da komm her! Mutz, Mutz …« Sie seufzte tief auf vor Erleichterung — sie glaubte, das tun zu müssen —, als das Tier hinter der Kiste hervorkam, wo es Schutz gesucht hatte. Der anfängliche Schock war bereits von einer rosigen Vorstellung abgelöst worden. Genauso erging es ihren Heldinnen in den Unterhaltungsromanen.
Sicherlich, diese gewährten hübschen, jungen feindlichen Offizieren Unterschlupf, die von centaurischen Agenten verfolgt wurden. Aber sie war so ausgehungert nach einem Erlebnis, das auch nur die geringste Ähnlichkeit mit diesen Erzählungen hatte, daß sie jetzt aus Angst, eine solche Gelegenheit könnte nie wiederkommen, vollkommen bereit war, das Umgekehrte zu tun. Den Jungen verraten zu haben, hätte ihr einen ruhmvollen Augenblick eingetragen, das ist wahr. Ihn zu beschützen, bedeutete jedoch, ein Verschwörer zu sein, tagelang, ja vielleicht wochenlang! Der Gedanke daran, welche Vergeltung nach diesen Wochen kommen würde, beeinflußte ihre augenblicklichen Entschlüsse überhaupt nicht.
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