»Wir haben einen Steilhang vor uns«, erklärte Glisson, »deshalb müssen wir abladen. Der Transporter schafft es nicht.«
Boumour und Igan schleppten Svengaard heraus und lehnten ihn an einen Baumstumpf neben der Fahrspur.
»Wartet hier, bis ich den Anhänger abkupple«, befahl Glisson. »Inzwischen könnt ihr euch überlegen, ob wir Svengaard aufgeben sollen.«
Svengaard hörte seinen Namen und öffnete die Augen. In der Ferne erkannte er die Lichter der Hauptstadt. Sein Kinn schmerzte von Harveys Schlag, und in seinem Kopf tobte es. Er fühlte, daß er hungrig und durstig war. Seine Hände fühlten sich unter den Fesseln taub an. Der trockene Geruch immergrüner Nadeln stieg ihm in die Nase; er mußte niesen.
»Vielleicht sollten wir Svengaard wirklich aufgeben«, meinte Igan.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Boumour. »Er hat Erfahrung und könnte unser Verbündeter werden. Leute mit Erfahrung werden wir noch bitter nötig haben.«
Svengaard wandte seinen Kopf den Stimmen zu. Sie standen neben dem Transporter, einem langen, silbrigen Schatten hinter einer gedrungenen Doppelkabine. Metall schlug aufeinander; der Anhänger rollte auf seinen Raupenketten etliche Meter rückwärts, bis ihn ein Erdhaufen aufhielt.
Glisson kam zurück und stellte sich neben Svengaard. »Töten — oder ihn leben lassen?« fragte er. »Wie habt ihr euch entschieden?«
Harvey schluckte, Lizbeth klammerte sich an seinen Arm.
»Behalten wir ihn noch für einige Zeit«, schlug Boumour vor.
»Wenn er uns keinen Ärger mehr macht«, ergänzte Igan.
»Wir könnten ihn immer noch teilweise verwerten«, antwortete Glisson, »oder einen neuen Svengaard heranziehen und ihn umerziehen. Es ist nicht nötig, daß ihr euch sofort entscheidet. Man kann sich’s noch überlegen.«
Svengaard schwieg; die Gefühllosigkeit dieser Worte ließ ihn erstarren. Das ist ein harter, brutaler Mann, dachte er, zu jeder Gewalttat bereit. Ein Mörder.
»Dann schafft ihn in die Kabine«, befahl Glisson. »Alle in die Kabine. Wir müssen …« Der Cyborg schwieg und sah zur Hauptstadt hinüber.
Auch Svengaard wandte sich um, sah die kalten, bläulich-weiß schimmernden Lichtstränge. Zu seiner Linken blitzte goldfarbenes, waberndes Licht auf, dahinter ein zweites — ein gigantisches Feuerwerk vor dem Hintergrund mondüberglänzter Berge. Immer mehr goldene Lichtgarben flammten auf. Das markerschütternde Rattern sonischer Waffen schüttelte ihn, brachte das Metall des Transporters zum klirrenden Mitschwingen.
»Was ist das?« hauchte Lizbeth.
»Ruhe!« gebot Glisson, »Ruhe und beobachten.«
»Ihr Götter allen Lebens«, flüsterte Lizbeth, »was ist das?«
»Das ist der Tod der Hauptstadt«, sagte Boumour.
Das Rattern sonischer Waffen dröhnte weiter.
»Oh, das tut weh!« wimmerte Lizbeth.
»Verdammt!« knurrte Harvey und zog sie näher an sich.
»Hier oben tut es weh«, murmelte Igan. »Unten tötet es.«
Etwa zehn Kilometer von ihnen entfernt stieg grüner Nebel aus der Wildnis auf. Er rollte wie eine gigantische Woge über die Hügel, die Diamantpunkte der Lichter, die goldgelben Blitze.
»Habt ihr damit gerechnet, daß sie den Todesnebel einsetzen?« fragte Boumour.
»Wir wußten, daß sie es tun würden«, antwortete Glisson.
»Wahrscheinlich«, pflichtete ihm Boumour bei. »Sie sterilisieren das ganze Gebiet.«
»Was soll das heißen?« fragte Harvey.
»Es kommt aus den Kanälen, durch die sie das empfängnisverhütende Gas leiten«, erklärte Boumour. »Ein winziges Teilchen auf der Haut genügt — dann ist es aus mit einem.«
Igan ging um Svengaard herum und sah ihn an. »Ja, das sind die, die uns lieben und für uns sorgen«, höhnte er.
»Was ist eigentlich los?« fragte Svengaard.
»Hörst du nicht?« spottete Igan. »Und siehst du nicht? Deine Freunde, die Regenten, sterilisieren Seatac. Hast du dort Freunde gehabt?«
»Freunde?« Svengaards Stimme klang wie erloschen. Er starrte in den grünen Nebel. Die Lichter in der Ferne waren alle tot. Immer wieder erschütterte das Rattern sonischer Waffen den Boden, brachte den Transporter zum Klirren.
»Und was denkst du jetzt von ihnen?« fragte Igan.
Svengaard schüttelte den Kopf. Warum konnte er nur sein Bewußtsein nicht vor diesen schrecklichen Tatsachen verschließen? Seine überwachen Sinne waren eine unlösbare Kette zu seinem Bewußtsein.
»Warum antwortest du nicht?« stichelte Igan.
»Lassen Sie ihn in Ruhe!« fauchte Harvey. »Wir haben genug Sorgen und Kummer. Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl?«
»Er sieht es und glaubt es doch nicht«, stellte Igan fest.
»Wie konnten sie das nur tun?« klagte Lizbeth.
»Selbsterhaltungstrieb«, brummte Boumour. »Den scheint unser Freund Svengaard aber nicht zu haben. Vielleicht hat man den in ihm ausgemerzt.«
Svengaard starrte noch immer auf die rollende grüne Woge. Einmal waren dort Lichter gewesen, unzählige Lichter, und jetzt diese tödliche Finsternis. Plötzlich wurde er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt. Er dachte an seine Freunde dort unten, an die Hospitalangestellten, die Embryos, seine Gefährtin. Alle tot, alles zerstört. Er fühlte sich wie ausgeleert; nicht einmal Kummer und Schmerz empfand er. Welche Absicht steht dahinter? dachte er.
»In den Transporter mit ihm«, befahl Glisson, »hinten, auf den Boden.«
Boumour und Glisson hoben ihn nicht gerade zart auf; noch nie vorher hatte Svengaard ein so kaltes menschliches Wesen kennengelernt, und das verwirrte ihn. Man warf ihn auf den Boden des Transporters; die scharfe Kante eines Sitzes verletzte ihn. Jemand stellte einen Fuß auf seinen Magen. Eine Tür schlug zu, und die Turbinen heulten auf. Sie bewegten sich. Svengaard versank in Bewußtlosigkeit.
Lizbeth, die über ihm saß, stieß einen tiefen Seufzer aus. Er durchdrang Svengaards Ohnmacht, und er fühlte etwas wie Mitleid für sie — die erste Gefühlsregung, seit er die Hauptstadt hatte sterben sehen. Warum haben sie das getan? fragte er sich, warum nur?
Lizbeth griff nach Harveys Hand. Vor ihr saß Glisson, und manchmal fiel ein Fleckchen Mondlicht auf seinen Kopf. Die genau berechneten Bewegungen, der Ausdruck unheimlicher Kraft in jeder Handlung des Cyborg erfüllten sie mit Unruhe. Ihre Operationswunde juckte, doch sie wagte es nicht, daran zu scheuern, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Der Kurierdienst hatte lange zum Aufbau seiner Organisation gebraucht, hatte sowohl die Cyborgs wie auch die Regenten hintergangen. Das war ihm nur gelungen, weil er seine Mitglieder zu äußerster Selbstbeherrschung erzogen hatte. Diese Erziehung machte sich nun in ihrer Angst geltend.
Jetzt kann ich Boumour und Igan lesen, signalisierte Harvey. Beide sind neue Cyborgs. Vielleicht die erste Verbindung mit überpflanzten Computern. Sie lernen erst, ihre normalen menschlichen Gefühle zu verleugnen.
Manchmal konnte Harvey die Menschen besser lesen als Lizbeth, und sie versuchte nun, mit Harveys Augen zu sehen. Ja, du hast recht, antwortete sie schließlich.
Das ist also der vollständige Bruch mit der Zentrale. Sie können niemals mehr zurückkehren.
Das erklärt auch Seatac. Lizbeth zitterte.
Und wir können ihnen nicht trauen. Harvey drückte sie beruhigend an sich.
Der Transporter überquerte weite, offene Wiesen, folgte alten Spuren und gelegentlich einem ehemaligen Flußlauf. Kurz vor Einbruch der Dämmerung durchpflügte er die Reste eines abgebrannten Waldes, erreichte ein Pinien- und Zederngehölz und durchfuhr eine schmale Lichtung. Eine dichte Duftwolke von zerquetschten Pflanzen mischte sich mit dem herben Waldgeruch. Endlich hielt Glisson hinter einem alten, moosbewachsenen Haus an. Neben dem Haus stand eine Anzahl uralter Amphibienfahrzeuge, die seit Jahren nicht mehr benützt worden waren, denn aus ihnen sprossen Unkräuter und Gras. Über den mit Vorhängen versehenen kleinen Fenstern, dicht unter dem Hausgiebel, hing eine einzelne Glühbirne. Das Heulen der Turbinen erstarb; nun hörten sie erst das Sirren eines Ventilatorturms, der silbern über die Baumwipfel ragte.
Читать дальше