Schruille beobachtete die Reihen der Zahlenanalogatoren, die unpersönlichen Berichterstatter, die nur zählten, aussortierten und die verbleibenden Reste meldeten … Nullen. Kein Bild zeigte, wie das Volk in den Tunnels und Mietskasernen starb, in den Labors, auf den Straßen, beim Spiel.
Schruille weinte.
Sie sind tot, dachte er, alle sind sie tot. Sein Geist empfand dieses Wort als Fremdling bar jeder persönlichen Bedeutung. Es war ein Wort, das man auf Bakterien, vielleicht auf Unkraut anwenden konnte. Man sterilisierte ein Gebiet, bevor man es mit hübschen Blumen bepflanzte. Aber weshalb weine ich? fragte er sich. Hatte er überhaupt jemals vorher geweint? Vielleicht …, aber das war schon so lange her … lange her … weinen … Die Worte hatten plötzlich keine Bedeutung mehr. Das ist der Nachteil, wenn man ewig lebt, dachte er. Wiederholt sich alles zu oft, dann verliert es seine Bedeutung.
Der grüne Nebel auf dem Schirm … Ein paar Reparaturen, dann können wir neue Menschen dort ansiedeln, dachte er, Menschen von einem weniger empfindlichen Gentyp. Doch wo gab es Menschen eines solchen Typs? Das Problem von Seatac existierte praktisch überall.
Doch er erkannte den grundlegenden Fehler. Eine Generation war zu sehr isoliert von den anderen. Es gab keine Tradition, keine Fortsetzung in die Zukunft, und von diesem Gedanken war das Volk besessen, unterwühlte die Grundlagen.
Als Gott den ersten unzufriedenen Menschen erschuf, überlegte Schruille, machte er ihn außerhalb der Zentrale ansässig. Aber wir haben dieses Volk geschaffen. Wie aber haben wir den unzufriedenen Menschen erschaffen?
Er wandte sich um und sah, daß auch Calapine und Nourse weinten.
»Warum weint ihr?« fragte er.
Doch sie schwiegen.
Am Ende des letzten Luftweges bog der Transporter aus dem unterirdischen Tunnel und hielt sich an die Nebenlinie nach Lester. Sie führte durch alte Tunnels zum Wildnisreservat und zur Erholungsstätte der Zuchturlauber, vorbei an verlassenen alten Straßen. Hier gab es nur den Mond als Lichtquelle und die harten Lichtbänder der Scheinwerfer des Transporters.
Unter ihnen fuhr gelegentlich ein Omnibus mit schweigsamen, schlecht gelaunten Paaren vorbei, deren Zuchturlaub zu Ende war und die zur Hauptstadt zurückeilten. Bemerkte einer von ihnen den Transporter, so hielt er ihn für ein Nachschubfahrzeug des Reservates.
An einer überhöhten Kurve des Homish Resort Komplexes nahm der Cyborgfahrer einige Berichtigungen vor. Es wurde gefährlich. Die Turbinen heulten auf, gingen auf größte Leistung. Der Transporter schwenkte von der Straße ab.
In dem engen Behälter klammerte sich Harvey mit einer Hand an die Bank, mit der anderen an Lizbeth, als der Transporter über die Furchen und Buckel der alten Straße schoß, durch ein Erlengehölz brach und auf einen Wildwechsel einschwenkte, der durch Rhododendronbüsche bergauf führte.
»Was ist denn los?« jammerte Lizbeth.
»Wir haben die Straße verlassen«, kam die rauhe Stimme des Fahrers durch den Lautsprecher. »Kein Grund zur Angst.«
Kein Grund zur Angst, dachte Harvey. Der Gedanke erschien ihm so lächerlich, daß er zu kichern versucht war.
Der Fahrer hatte nun die Scheinwerfer abgeschaltet und verließ sich nur auf den Mond und sein Infrarot-Sehvermögen. Der Cyborg folgte einem schmalen, gewundenen Pfad durch den Busch und ließ eine lange, dicke Staubfahne hinter sich. Nach etwa zwei Kilometern kreuzte der Wildwechsel eine Forststraße; sie war kaum mehr als eine Lichtung, auf der die Patrouillenfahrzeuge eine dicke Matte von welken Farnen und Weidengestrüpp hinterlassen hatten. Hier bog der Transporter nach rechts ab und raste wie ein schnaubendes, prähistorisches Ungeheuer einen Hügel hinauf, die andere Seite hinab und den nächsten Hügel hinauf; dort hielt er an. Die heulenden Turbinen verstummten, und der Transporter senkte sich auf seine Raupenketten. Der Fahrer, eine stämmige, kurzbeinige Gestalt, stieg aus; seine für die gegenwärtige Aufgabe konstruierten Prothesenarme glitzerten. Er schob eine Seitenwand zurück, lud die Fracht aus und warf die einzelnen Stücke in einen tiefen Wasserlauf.
Drinnen im kleinen Abteil stand Igan auf und zischte in die Sprechmuschel: »Wo sind wir denn?«
Schweigen.
»Das war aber dumm«, meinte Harvey. »Woher wollen Sie wissen, weshalb er hier angehalten hat?«
Igan überhörte die Beleidigung, denn schließlich hatte ein ungebildeter Tölpel sie ausgesprochen. »Man hört doch, daß er ablädt«, sagte er und schlug mit der flachen Hand an die Abteilwand. »Was ist dort draußen los?«
»Ach, setzen Sie sich doch«, knurrte Harvey und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, so daß der Arzt auf die Bank zurückfiel.
Igan, zornrot und die Augen voll Wut, wollte zurückschlagen. Boumour hielt ihn zurück. »Ein bißchen mehr Gelassenheit, Freund Igan«, riet er polternd.
Igan lehnte sich zurück. Langsam glätteten sich seine Züge wieder. »Ist doch komisch«, meinte er schließlich, »wie die Gefühle mit einem durchgehen können, obwohl …«
»Das geht vorüber«, unterbrach ihn Boumour.
Harvey tastete nach Lizbeths Hand. Igans Brust ist konvex, klopften seine Finger, und hart wie Plasmeld. Ich fühlte es deutlich unter seiner Jacke.
Du hältst ihn für einen Cyborg?
Er atmet normal.
Und er hat Gefühle. Ich lese Angst in ihm.
Ja, aber …
Wir müssen vorsichtig sein.
»Sie sollten etwas mehr Vertrauen zu uns haben, Durant«, sagte Boumour. »Dr. Igan hat angenommen, draußen ist alles sicher, sonst würde unser Fahrer nicht abladen.«
»Woher sollen wir denn wissen, wer sich an der Ladung zu schaffen macht?« fragte Harvey.
Eine Andeutung von Mißtrauen überflog Boumours ruhiges Gesicht. Harvey sah es und lächelte.
Harvey, signalisierte Lizbeth, glaubst du, daß …
Es ist unser Fahrer, versicherte Harvey. Ich rieche den Duft der Wildnis, und ich hörte kein Kampfgeräusch. Einen Cyborg überwältigt man nicht ohne harten Kampf.
Aber wo sind wir?
In den Bergen, mitten in der Wildnis. Wir müssen weit weg von den normalen Verkehrswegen sein.
Plötzlich hob sich ihr Abteil und wurde zur Seite geschoben. Die einzige Lampe erlosch. Die Wand hinter Harvey verschwand in der Dunkelheit. Er hielt Lizbeth umklammert und sah hinaus — Mondlicht, der stämmige Schatten des Fahrers vor dem Panorama der Hauptstadt mit ihrem Netzwerk von Glitzerlichtern. Der Mond schüttete Silber über die Wipfel der Bäume unter ihnen, und um sie war der scharfe, harzige Waldgeruch, vermischt mit dem moosigen Moderduft frisch aufgebrochenen Waldbodens. Schweigend lag die Wildnis unter ihnen, als versuche sie, die Eindringlinge zu erkennen.
»Raus!« befahl der Fahrer.
Der Cyborg wandte sich um. Harvey erkannte die vom Mondlicht übergossenen Züge.
»Glisson!« rief er.
»Ich grüße dich, Durant«, antwortete Glisson.
»Warum du?« fragte Harvey.
»Warum nicht?« erwiderte Glisson. »Kommt jetzt raus.«
»Aber meine Frau ist …«, wandte Harvey ein.
»Ich weiß, Durant. Die Behandlung ist schon lange her. Sie kann ganz gut gehen, wenn sie sich nicht überanstrengt.«
»Sie ist ganz in Ordnung«, flüsterte ihm Igan ins Ohr. »Helfen Sie ihr, sich aufzusetzen und stützen Sie sie beim Aussteigen.«
»Mir … mir geht es ganz gut«, versicherte Lizbeth. Sie legte einen Arm um Harveys Schulter und ließ sich zu Boden gleiten.
Igan folgte ihnen. »Wo sind wir eigentlich?« fragte er.
»Irgendwo, und auf dem Weg irgendwohin«, antwortete Glisson. »Und wie geht es unserem Gefangenen?«
»Er kommt wieder zu sich«, meldete Boumour aus dem Abteil. »Helft mir, ihn herauszubringen.«
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