»Du mußt dich entscheiden«, hatte Igan gesagt.
Svengaard besah sich die Leute. Ein Mann mit einer golden schimmernden Metallkugel ging an ihm vorbei. Aus einer seiner Taschen hing eine kurze Silberkette, an der ein Fruchtbarkeitsfetisch baumelte.
»Du mußt Antwort geben«, mahnte Igan.
Svengaard sah die Wand an. Plasmeld, das unvermeidliche Plasmeld. Es roch nach Desinfektionsmitteln und dem Ersatzgartenduft des Luftreinigers. Die Menschen trugen fast alle die gleiche Kleidung. Was waren das für Leute? Es war nur zu offensichtlich, daß sie einer Untergrundbewegung angehörten. Aber welcher?
. »Wir haben nun den offenen Kampf«, sagte Igan. »Du mußt mir glauben. Dein eigenes Leben hängt davon ab.«
Mein Leben? wunderte sich Svengaard. Er dachte über sein Leben nach, versuchte Klarheit darüber zu gewinnen. Er hatte eine Tertiärfrau, kaum mehr als eine Gespielin, deren Anträge auf eine Aufzuchterlaubnis immer wieder zurückgewiesen worden waren, wie die seinen auch. Er konnte sich im Augenblick nicht einmal ihr Gesicht vorstellen, ebensowenig wie die Gesichter seiner früheren Frauen und Gefährtinnen. Sie ist nicht mein Leben, dachte er. Wer ist eigentlich mein Leben?
Er war erschöpft vor Müdigkeit und von den narkotischen Drogen, die seine Entführer ihm während der Nacht aufgezwungen hatten. Er erinnerte sich der Hände, die nach ihm gegriffen, ihn festgehalten hatten, an die Lücke in der Wand, die keine Tür sein konnte, aber doch eine war, an die Lichtfülle dahinter. Und er erinnerte sich daran, daß er in Igans Gegenwart aufgewacht war.
»Ich habe dir nichts vorenthalten«, fuhr Igan fort, »ich habe dir alles erzählt. Potter ist knapp mit dem Leben davongekommen. Der Befehl, dich einzufangen, ist schon ausgegeben. Deine Computerassistentin ist tot. Viele Menschen sind gestorben. Noch mehr werden sterben. Verstehst du nicht, daß sie Sicherheit brauchen? Sie können nichts dem Zufall überlassen.«
Was ist mein Leben? fragte sich Svengaard. Er dachte an seine gemütliche Wohnung, an seine Instrumente und Unterhaltungsbänder, seine wissenschaftliche Arbeit, seine Freunde, an die sichere ärztliche Routine seiner Stellung.
»Aber wohin soll ich gehen?« fragte Svengaard.
»Wir haben etwas vorbereitet.«
»Kein Ort ist vor ihnen sicher«, antwortete Svengaard, und nun wurde ihm zum erstenmal bewußt, wie sehr er die Regenten verabscheute.
»Es gibt viele sichere Orte«, widersprach Igan. »Sie behaupten nur, übersinnlicher Wahrnehmungen fähig zu sein. Ihre Macht gründet sich auf Maschinen und Instrumente, die geheime Überwachung. Aber Maschinen und Instrumente kann man stören und für andere Zwecke verwenden. Und die Regenten überlassen es dem Volk, ihre Gewalttaten zu vollbringen.«
Svengaard schüttelte den Kopf. »Das ist alles Unsinn.«
»Nur das eine nicht. Sie sind wie wir — Menschen, die sich ändern. Das wissen wir aus Erfahrung.«
»Weshalb sollen sie aber die Dinge tun, die ihr ihnen vorwerft?« protestierte Svengaard. »Das ist doch unvernünftig. Sie sind gut zu uns.«
»Ihr einziges Interesse besteht darin, sich selbst zu erhalten«, erklärte Igan. »Sie tanzen auf einem dünnen Seil. Solange sich nichts ändert in ihrer Umgebung, solange bleiben sie leben — unendlich lange. Eine entscheidende Änderung — und sie sind wie wir den natürlichen Gefahren ausgesetzt. Verstehst du, für sie kann es keine Natur geben, da sie diese Natur nicht kontrollieren können.«
»Das glaube ich nicht. Sie lieben uns, und sie sorgen für uns. Sieh dir doch nur an, was sie alles für uns getan haben.«
»Das habe ich getan.« Igan schüttelte den Kopf. Svengaard war noch viel sturer, als er geglaubt hatte. Er leugnete jeden Gegenbeweis und klammerte sich an die alten Redensarten.
»Du möchtest, daß sie verschwinden«, beschuldigte ihn Svengaard.
»Weil sie uns um unsere Weiterentwicklung betrogen haben«, erwiderte Igan.
»Um was … betrogen?«
»Sie sind die einzigen freien Persönlichkeiten in unserer Welt«, erklärte Igan. »Aber Personen entwikkeln sich nicht; Völker entwickeln sich, nicht das Individuum. Wir haben kein Volk.«
»Aber das Volk …«
»Ja, Volk! Die Leute! Wer unter uns hat die Erlaubnis, sich einen Ehepartner zu suchen?« Igan schüttelte den Kopf. »Du bist ein Genchirurg, Mann? Hast du noch immer nicht begriffen?«
»Sag doch, was du damit eigentlich meinst!« Svengaard verwünschte seine Fesseln, denn seine Arme und Beine waren schon taub.
»Die Regenten bestehen auf ihren Regeln für die Fortpflanzung. Sie wollen den Durchschnitt, und alles, was sie tun, zielt darauf ab, diesen Durchschnitt systematisch zu züchten und jede Entwicklung besonders hochstehender Individuen zu unterdrücken. Die wenigen besonders hochstehenden Menschen, die es trotzdem gibt, erhalten keine Aufzuchterlaubnis.«
Svengaard schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht«, sagte er, wenn auch allmählich Zweifel in ihm erwachten. Er brauchte nur an sich selbst zu denken: Ganz gleich, welche Partner er sich auch wählte — die Zuchterlaubnis wurde immer versagt.
»Du glaubst mir also doch«, stellte Igan fest.
»Aber bedenke doch, welch langes Leben wir durch sie haben«, wandte Svengaard ein, »ich kann ungefähr zweihundert Jahre alt werden.«
»Die Medizin bringt das zustande, nicht die Regenten«, belehrte ihn Igan. »Der Schlüssel dazu ist eine sorgfältige, genau dosierte Enzymzufuhr. Jede Aufregung, die unserer Gesundheit schaden könnte, wird von uns ferngehalten. Man treibt Sport und hält sich an die vorgeschriebene Diät. Das ist das ganze Geheimnis, und das gilt für alle.«
»Aber ein unendlich langes Leben?« flüsterte Svengaard.
»Nein! Ein langes Leben, viel länger als jetzt. Ich selbst bin fast vierhundert Jahre alt, und ich stehe damit nicht allein. Fast vierhundert schöne Jahre …«, sagte er und verwendete Calapines heuchlerische Phrase.
»Du — vierhundert?« staunte Svengaard.
»Natürlich ist das nichts im Vergleich zu den vielen tausend der ihren«, meinte Igan. »Aber fast jeder könnte so lange leben; nur — sie lassen es nicht zu.«
»Und warum nicht?«
»Auf die Art können sie ihren Bevorzugten und Auserwählten ein paar zusätzliche Jahre bieten als Belohnung für treue Dienste. Sonst haben sie doch sowieso nichts für uns übrig, und du weißt es selbst. Und für dieses bißchen an zusätzlichem Leben hast du dich die ganze Zeit hindurch an sie verkauft.«
Svengaard sah auf seine gefesselten Hände nieder. Ist das mein Leben? überlegte er. Gebundene Hände?
»Und du solltest Nourse hören, wie er mich wegen meiner lumpigen vierhundert Jahre auslacht«, fuhr Igan fort.
»Nourse?«
»Ja, Nourse von der Tuyère, Nourse der Zyniker, Nourse, der älter ist als vierzigtausend Jahre! Warum, glaubst du, ist Nourse ein solcher Zyniker? Es gibt noch ältere Regenten, aber von denen sind die wenigsten Zyniker.«
»Das verstehe ich nun wirklich nicht«, sagte Svengaard. Ratlos, keiner Gegenwehr fähig, ließ er all das auf sich niederprasseln.
»Nun, ich vergaß, daß du nicht zur Zentrale gehörst. Sie klassifizieren sich selbst durch die kleinen Gefühle, die sie sich erlauben. Sie sind Aktionisten, Emotionalisten, Zyniker, Hedonisten und Unfruchtbare. Erst sind sie Zyniker, dann werden sie Hedonisten. Die Tuyère haben mit ihrem persönlichen Vergnügen genug zu tun. Erkennst du darin ihre Absichten? Sie sind nicht gut.«
Igan musterte Svengaard.
Welche Wirkung mochten seine Worte haben? Dieser Mann hier war kaum mehr als der Durchschnitt und mittleren Alters. Für ihn waren die Regenten der Angelpunkt des Universums.
»Wo können wir uns verbergen?« fragte Svengaard. »Gibt es einen Platz, an dem wir uns verstekken können? Sie kontrollieren die Enzymrezepturen. Betritt einer von uns eine Apotheke, so ist das unser Ende.«
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