Der Führer berührte Potters Arm. »Wir werden beobachtet«, sagte er in gänzlich unpersönlichem Ton. »Hören Sie mir aufmerksam zu. Ihr Leben hängt davon ab.«
Potter schüttelte den Kopf und blinzelte.
»Sie gehen jetzt durch das vor uns liegende Tor«, befahl der Führer.
Potter sah zum Tor hinüber. Zwei Männer, die in Papier eingewickelte Pakete trugen, kamen aus der Gasse hinter dem Tor und eilten um den Platz herum. Der Führer beachtete sie nicht. Auch das Plappern sich nähernder junger Stimmen überhörte er.
»In diesem Gebäude werden Sie durch die erste Tür links gehen«, befahl er. »Dort sehen Sie eine Frau, die an einem Sprechgerät arbeitet. Zu ihr sagen Sie: ›Mein Schuh drückt‹, und sie antwortet: ›Jeder hat seine Sorgen.‹ Sie wird sich von da an um Sie kümmern.«
»Und … wenn sie nicht da ist?« fragte Potter.
»Dann gehen Sie durch die Tür hinter ihrem Tisch in das angrenzende Büro und die Halle dahinter; dann nach links zur Rückseite des Gebäudes. Dort finden Sie einen Mann in der Uniform eines Ladeinspektors, grau und schwarz gestreift. Gleiche Prozedur wie vorher.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Schnell jetzt!« Der Führer schob ihn vorwärts. Potter stolperte auf das Tor zu, als eine junge Frau in der Uniform der Lehrerinnen mit einer Anzahl Kinder heraustrat. Er drückte sich durch die Kinderschar. Hinter ihm schrie jemand. Potter drückte die Türklinke und sah zurück.
Sein Führer war nun hinter dem Brunnen; sein Unterkörper war nicht mehr zu sehen. Aber das, was Potter noch von ihm sah, ließ ihn erstarren. Die Kinder weinten und schrien und rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren, doch Potter gab nicht auf sie acht, denn der Anblick der Maschine, die er für ein menschliches Wesen gehalten hatte, faszinierte ihn. Einer der beiden Arme seines Führers zeigte nach oben. Aus den Fingern schossen Blitze, und wo das Licht sich verlor, fielen Flugwagen taumelnd zu Boden. Die Luft um ihn herum war zu einem ozonknisternden Inferno geworden mit Explosionen, Schreien und heiserem Kreischen.
Potter war keiner Bewegung fähig; seine Hand lag noch immer auf der Türklinke. Nun wurde auch der Führer unter Feuer genommen. Seine Kleidung schrumpfte zusammen, löste sich in Qualm auf und enthüllte einen gepanzerten Körper mit Muskeln, die aus Plasmeld zu bestehen schienen. Noch immer sandten Finger und Brust sengende Strahlen aus.
Den Anblick konnte Potter nun nicht länger mehr ertragen, klinkte die Tür auf und taumelte in einen düsteren Vorraum. Er schlug die Tür hinter sich zu. Im selben Augenblick erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude. Links von ihm sah er eine offene Tür. Eine zierliche, blauäugige, blonde Frau starrte ihn an. Instinktiv stellte Potter ihren Gentyp fest. Hinter ihr erkannte er ein Sprechgerät. Erleichtert atmete er auf.
»Mein Schuh drückt«, sagte er.
Sie schluckte. »Jeder hat seine Sorgen«, erwiderte sie.
»Ich bin Dr. Potter«, erklärte er. »Ich glaube, mein Begleiter wurde soeben getötet.«
»Hier herein«, forderte sie ihn auf und trat zur Seite.
Potter betrat ein Büro mit Reihen von leeren Schreibtischen. Sein Gehirn war in Aufruhr, er war zutiefst erschüttert von der Gewalttat, die er eben miterlebt hatte.
Die Frau griff nach seinem Arm und führte ihn zu einer anderen Tür. »Hier durch«, sagte sie. »Wir müssen in die Kanäle, das ist die einzige Möglichkeit. In wenigen Minuten werden sie das ganze Gebäude eingekreist haben.«
Potter blieb stehen. »Wohin gehen wir?« fragte er. »Wozu braucht man mich?«
»Sie wissen es nicht?«
»Er … er hat nie davon gesprochen.«
»Alles wird Ihnen erklärt werden«, versprach sie. »Jetzt aber beeilen Sie sich.«
»Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor Sie es mir nicht erzählt haben«, erklärte er bestimmt.
Sie stieß einen ordinären Fluch aus. »Wenn ich muß, dann muß ich eben«, seufzte sie. »Sie müssen den Embryo der Durants in die Mutter verpflanzen. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn von hier herauszukriegen.«
»In die Mutter?«
»Ja, auf die alte Art. Ich weiß, das ist ekelhaft, aber es ist wirklich die einzige Möglichkeit. Jetzt aber rasch!« Sie schob Potter durch die Tür.
In der roten Kugel des Kontrollzentrums waren die Tuyère mit Datenvergleichen und Befehlsdurchsagen beschäftigt. Lichter zuckten auf den Bildschirmen, und die Spione glitzerten. Alle Berichte und Befehle wurden durch die Geräte in mathematische Formeln umgesetzt, in schwingende Kurven und grüne Linien. An diesem Morgen waren es mehr als tausend Regenten, die an den Spionen saßen.
Calapine drehte den Rezepturring an ihrem linken Daumen. Sie war von Rastlosigkeit erfüllt, und sie wußte keinen Namen für ihre Wünsche. Ihre Pflichten in der. Kugel widerten sie allmählich an, ihrer Kameraden war sie überdrüssig. Sie verspürte unerträgliche Langeweile. Jeder ihrer Gefährten schmolz mit allen anderen zusammen zu einem unendlich nichtssagenden Wesen.
»Ich habe noch mal das Proteinsyntheseband des Durantembryos studiert«, sagte Nourse. In seinem Reflektor sah er zu Calapine hinüber und trommelte nervös auf den Armstützen seines Thrones.
»Wir haben etwas übersehen«, spöttelte Calapine und sah Schruille an, dessen Hände ruhelos über seine Robe strichen. Auch er war nervös.
»Zufällig habe ich entdeckt, was wir übersehen haben«, erklärte Nourse.
»Nun … mir erscheint es möglich, daß Potters Operation wiederholt werden kann — vorausgesetzt, wir haben denselben Embryotyp und eine genau dosierte Zufuhr von Spermprotaminen.«
»Hast du den Operationsverlauf rekonstruiert?« fragte Calapine.
»Nicht genau, aber in großen Zügen.«
»Und Potter könnte sie wiederholen?«
»Vielleicht sogar Svengaard.«
»Schütze und bewahre uns«, murmelte Calapine. Das war eine rituelle Formel, die selten einmal an ein Regentenohr gelangte. Diesmal hatte sie selbst die Worte gesprochen, und sie brannten wie Feuer.
»Wo ist Max?« fragte Schruille.
»Er arbeitet«, knurrte Nourse. »Er hat zu tun.«
Schruille sah zu den Spionen hinauf. Hinter diesen Linsen lauerten die Zyniker, die ihr Spiel genossen, die Hedonisten, die um ihr Vergnügen fürchteten, die Unfruchtbaren, die etwas brauchten, um verächtlich grinsen zu können.
Werden wir nun noch eine neue Partei der Brutalen bekommen, überlegte Schruille, die aus Selbsterhaltungstrieb alle Gefühle leugnet? Nourse und Calapine ahnen von dieser Gefahr noch gar nichts. Ihn schauderte.
»Max ruft«, meldete Calapine, »ich habe ihn auf dem Schirm.«
Schruille und Nourse schalteten ihre Geräte parallel und erkannten Allgoods stämmige, muskulöse Gestalt.
»Ich berichte«, begann Allgood.
Calapine musterte sein Gesicht. Es schien vor Angst verzerrt zu sein.
»Was ist mit Potter?« fragte Nourse.
Allgood blinzelte.
»Warum antwortet er nicht?« fragte Schruille.
»Weil er uns verehrt«, spottete Calapine.
»Verehrung wird durch Furcht hervorgerufen«, sagte Schruille. »Vielleicht möchte er uns etwas zeigen, neue Beweise, neue Daten. Stimmt das, Max?«
Allgood starrte vom Schirm herunter einen nach dem anderen an. Wieder hatten sie sich in ein unnützes Wortgeplänkel verloren, dachten nicht an die Zeit, an Beweise und Daten — ein Nebenprodukt endlosen Lebens, des Losgelöstseins von trivialen Notwendigkeiten. Diesmal hoffte er, sie würden unendlich lange so weitermachen.
»Wo ist Potter?« verlangte Nourse zu wissen.
Allgood schluckte. »Potter … hat sich uns entzogen.« Lügen oder Ausflüchte waren sinnlos, das wußte er.
»Wie?« fragte Nourse.
»Es gab … eine Gewalttat.«
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