Am liebsten hätte er das Bild abgeschaltet, aber das durfte er nicht. Um den ellipsenförmigen Raum lief eine Galerie, die die obere von der unteren Etage trennte. Wie ein Seemann auf schwankendem Deck rannte Harrach mit gespreizten Beinen hinauf und einmal rundherum. Man hätte meinen können, er sei dabei, ein Lauftraining zu absolvieren. Auf Pfeilern, die wie die Speichen eines großen Rades in der Mitte zusammentrafen, zwischen Kreuzstreben, die an der Decke befestigt waren, ruhte die Operationszentrale. Acht tiefe Sessel standen um das Terminal, das einem geköpften Kegel glich. Auf dieser Platte lag der Entwurf des Ultimatums, geschrieben in den für Steergard charakteristischen schrägen, scharfen Schriftzügen. Nachdem Harrach zwischen den Sesseln hindurch an den Tisch getreten war, tat er etwas, was er von sich selbst nie für möglich gehalten hätte: Er drehte das Blatt mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Er blickte sich um, ob ihm niemand zusah, aber nur die flimmernden Bildschirme täuschten eine Bewegung vor. Der Pilot setzte sich in den Sessel, den sonst der Kommandant einzunehmen pflegte. Durch die keilförmigen Fenster zwischen den unter einer silbrigen Plastikhülle liegenden Pfeilern sah er unten den Navigationsraum, der ebenfalls von verschiedenfarbigen Lichtern, einem flimmernden Schein erfüllt war. Dieser kam immer noch vom Hauptmonitor — vom getrübten Licht der Quinta.
Harrach stützte die Ellenbogen auf das schräge Pult und schlug die Hände vors Gesicht. Wenn er gekonnt, wenn er gedurft hätte, so hätte er vielleicht geweint nach diesem Sodom und Gomorrha.
Er erschien völlig gelassen und nahm von niemandem Abschied. Keiner seiner Gefährten stieg, als es soweit war, mit ihm in den Lift. Im normalen weißen Raumanzug, den Helm unterm Arm, blickte er auf die nacheinander aufleuchtenden Nummern der Decks, die er durchfuhr. Selbsttätig öffnete sich die Tür. In der kuppeiförmig gewölbten Starthalle stand merkwürdig klein die Rakete, untadelig silbern, weil sie noch nie eine Atmosphäre durchquert, die Hitze ihr noch nie Bug und Flanken mit Ruß geschwärzt hatte. Über das Gitterblech, das bei jedem Schritt dumpf widerhallte, ging er auf den Flugkörper zu und spürte dabei eine zunehmende Schwere, das Zeichen, daß der HERMES mit verstärktem Schub das Heck von dem Planeten kehrte, um ihm beim Start den rechten Schwung geben zu können.
Er sah sich um. Hoch oben, wo die Bogenpfeiler zusammentrafen, brannten Kränze starker Leuchtröhren. In ihrem schattenlosen Licht stülpte er sich den Helm über. Die Klammern schnappten zu, automatisch griff er nach dem breiten Rund des metallenen Kragens und atmete, bereits abgeschnitten von der Luft der Halle, den Sauerstoff ein. Der Druck war ein wenig zu hoch, glich sich aber sofort von selbst aus.
Über ihm war die Kabinenluke aufgeklappt. Er trat auf eine Bühne, die ihn emportrug. In der bisher finsteren Luke ging Licht an, das Podest des Hubgeräts hielt genau an der Schwelle, die er, die Füße in großen Stiefeln, den elastischen Handschuh über die Geländerstange führend, ohne Eile überstieg. Dann packte er mit beiden Händen den Türsturz, schwang sich gebückt, die Beine voran, hinein und landete weich im Innern. Die Luke schloß sich. Mit einem melodischen Pfeifen fiel die bisher über der Rakete hängende gasdichte Haube herunter, und hydraulische Kolben drückten sie in den Schacht des Ausstoßtrichters, damit das Raumschiff beim Start der Landefähre keine Luft verlor und diese nicht von den giftigen Flammen der Triebwerke verseucht wurde.
Leicht wie im Simulator fand der Pilot die gerippten Schläuche der Klimatisierung und schraubte sie an die Muffen des Raumanzugs. Die Bajonettverschlüsse schnappten ein — der Beweis, daß die Gewinde sofort gegriffen hatten. Nun war er mit der Rakete verkoppelt. Deren Wandpolster begann zu schwellen, bis er darin steckte wie in einem elastischen Wickeltuch, das freilich nur bis unter die Achseln reichte, damit er die Arme frei bewegen konnte. Es gab nicht mehr Platz als in einem ägyptischen Sarkophag, und so waren diese Einmannraketen oft auch genannt worden. Zur Rechten befand sich der Griff des Countdown-Automaten, direkt vor den Augen schimmerten durch das Glas des Helms die Tafeln der Analoganzeiger und die zur Reserve dienenden Digitalzähler für Höhe und Leistung, der künstliche Horizont und in der Mitte ein bisher leerer viereckiger Bildschirm. Als der Pilot den Hebel bis zum Anschlag umlegte, leuchteten sämtliche Lämpchen auf und versicherten mit vertraulichem, wohlwollendem Zwinkern, daß alles bereit sei: das Haupttriebwerk, die acht Steuer- und vier Bremstriebwerke, der Ringfallschirm für die Ionosphäre und der große Havariefallschirm (der Monitor ließ aber mit blitzartig verlöschenden Punkten sogleich wissen, daß es keine Havarie geben würde, und zeichnete zum Beweis eine ideal genaue Flugkurve vom grünen Sternchen des HERMES zur Wölbung des Planeten). Um Sekundenbruchteile verzögert, meldete sich auch der dritte, der Kaskadenfallschirm, der auch als fünftes Rad am Wagen bezeichnet wurde.
Tempe hatte solche Augenblicke schon häufig erlebt und mochte sie. Er vertraute diesen rasch pulsierenden grünen, orangefarbenen und blauen Lämpchen. Er wußte, daß sie rot aufflammen konnten wie vor Angst blutunterlaufene Augen, denn es gibt keine Anlage, die gegen Havarien gefeit wäre, aber alle hatten sich überaus bemüht, daß bei ihm nichts versagte. Der Automat zählte bereits von zweihundert rückwärts. Der Pilot glaubte im Kopfhörer das Atmen der im Steuerraum versammelten Männer zu hören, ein lebendiger Hintergrund angehaltenen Atems, vor dem von der gleichgültigen Automatenstimme die immer kleiner werdenden Zahlen abgelesen wurden.
Als er bei Zehn eine leichte Beschleunigung seines Pulses spürte, runzelte er unter der Haube des Helms die Stirn, als wollte er das Herz für dessen mangelnden Gehorsam tadeln. Allerdings blieb von der Tachykardie wohl niemand verschont — nicht einmal bei einem banalen Start, von solchen Umständen wie hier ganz zu schweigen. Er war froh, daß ihn niemand ansprach, aber als das sakramentale „Zero“ kam und er das Erzittern der mit seinem Körper in eins verschmolzenen Rakete spürte, erreichte ihn eine schwache Stimme, deren Inhaber offenbar in einiger Entfernung von den Mikrofonen stand: „Gott sei mit dir.“
Dieser unvermutete Wunsch überraschte ihn, obwohl keiner weiß, ob er ihn nicht doch erwartet hatte — von diesem Mann. Für weitere Überlegungen war aber keine Zeh. Sanft und kraftvoll zugleich, wie von einer atlasbekleideten stählernen Faust, wurde das Geschoß von einem hydraulischen Greifarm durch eine zylindrische Öffnung ausgestoßen. Es löste sich von Bord, und wenngleich Tempe sich in seiner aufgeblasenen Hülle nicht regen konnte, verspürte er für zwei, drei Sekunden die Schwerelosigkeit, bevor die Triebwerke zündeten. Für einen Moment sah er im oberen Eck des Bildschirms den Rumpf des Raumschiffs verschwinden, aber das konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Die Rakete hieß ERDE, so hatte er es gewollt, und so sollte er auch gerufen werden. Sie vollführte einen Salto, die schwachen Pünktchen der Sterne flogen über den Monitor, als kleine weiße Scheibe zog auch die Quinta vorüber und verschwand.
Das Fluggerät fegte das Dunkel mit dem Ausstoß seiner Steuerdüsen und ging auf Kurs: Die reale Flugbahn deckte sich ideal mit der vom Computer vorgezeichneten gepunkteten Linie. Der Pilot hätte sich bereits beim HERMES melden müssen, schwieg aber noch — als wollte er sich an dem einsamen Flug berauschen. „Der HERMES erwartet Meldung.“
Das war Steergards Stimme. Bevor Tempe antworten konnte, hörte er Harrach sagen:
„Er wird eingeschlafen sein.“ Solche Witze, die ein bißchen nach Kasernenhof rochen, hatten die ersten Raumflüge begleitet, um die beispiellosen Erlebnisse der Menschen herunterzuspielen, die im Kopf einer Rakete eingeschlossen waren wie m einer abgefeuerten Granate. Darum hatte Gagarin in der letzten Sekunde gesagt: „Ab geht's!“ und deshalb hieß es nicht: „Der Sauerstoff strömt aus, wir werden ersticken“, sondern: „Wir haben da ein gewisses Problem.“ Harrach war sich gewiß nicht bewußt, daß er mit seinem Scherz in die Vergangenheit zurückgriff, ebensowenig wie Tempe, dem es herausfuhr: „Ich fliege.“ Er faßte sich aber sofort und schlug den verfahrensüblichen Tonfall an.
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