Als sie völlig entkräftet waren, endete der Grat. Sie wußten nicht, ob vor ihnen ein Abgrund oder bereits der Abstieg ins Tal der Sieben Roten Seen lag, von dem der alte Indianer gesprochen hatte. Sie blieben also die ganze Nacht sitzen, Rücken an Rücken, sich aneinander wärmend und dem Nachtwind trotzend, der um den Grat wimmerte wie ein Messer auf dem Schleifstein. Das Einschlafen barg die Gefahr des Abstürzens, und daher machten sie sieben Stunden lang kein Auge zu.
Dann ging die Sonne auf und brach durch den Nebel. Sie sahen, daß der Felsen unter ihren Füßen so senkrecht abfiel, als säßen sie auf einer schmalen Mauerkrone. Vor ihnen lag eine Kluft von acht Fuß. Der Nebel am Hals des Pferdes riß in Fetzen und gab den Blick frei auf das ferne schwarze Haupt des Mazumac, auf emporschießende rote Rauchsäulen, zwischen denen weiße Wolken hingen. Die beiden rissen sich beim Abstieg in der engen Kluft die Hände blutig, erreichten aber schließlich den oberen Kessel des Tals der Sieben Roten Seen. Hier verließen Guilielmo jedoch endgültig die Kräfte. Don Esteban betrat als erster das über dem Abgrund hängende Felsband und führte den Gefährten bei der Hand. So schritten sie vorwärts, bis sie an eine Geröllhalde kamen, wo sie rasten konnten. Die Sonne stand schon hoch, als das Haupt des Mazumac Felsbrocken zu speien begann, die von den Überhängen abplatzten. Die beiden flohen nach unten.
Als der Kopf des Pferdes nur noch klein wie eine Kinderfaust über ihnen hing, erblickten sie in einer Wolke rostfarbenen Schaums die erste Rote Quelle. Don Esteban zog unter der Achsel ein Bündel Riemen hervor, die in der Farbe des Akanthus gegerbt waren. Die rot bemalten Fransen waren zu zahlreichen Knoten geknüpft. Lange ließ er sie durch die Finger gleiten, um die indianische Schrift zu entziffern und schließlich den rechten Weg abzulesen. Das Tal des Schweigens öffnete sich vor ihnen. Auf seinem Grund gingen sie über riesige Felsblöcke, zwischen denen bodenlose Schrunde gähnten. „Ist es noch weit?“ fragte Guilielmo.
Er tat es flüsternd, weil er keinen Ton aus der vertrockneten Kehle brachte. Don Esteban winkte ihm, zu schweigen. Plötzlich stolperte Guilielmo und stieß an einen Stein, der andere nach sich zog. Als Echo auf dieses Geräusch brach es wie Rauch aus den senkrechten Wänden, sie verschwanden in einer silbrigen Wolke, und Tausende steinerner Keulen brachen zu Tal. Don Esteban, der gerade unter einem gewölbten Überhang entlangschritt, konnte seinen Freund eben noch in diese Deckung zerren, als die alles zermalmende Lawine sie einholte und wie ein Unwetter vorüberschoß. Nach einer Minute trat Stille ein. Don Guilielmo blutete durch einen Felssplitter am Kopf. Sein Gefährte zog das Hemd aus, riß es in Streifen und verband ihm die Stirn. Endlich, als das Tal so eng geworden war, daß der Himmel über ihnen nicht breiter als ein Fluß erschien, erblickten sie einen Bach, der ohne das geringste Rauschen über die Felsen floß. Sein Wasser, das klar war wie ein feingeschliffener Diamant, verlor sich in einem unterirdischen Bett.
Die reißende, eisige Strömung, in die sie hinein mußten und die ihnen bis über die Knie reichte, zerrte mit furchtbarer Gewalt an ihren Beinen, bog aber bald seitwärts ab. Die beiden standen auf trocknem gelbem Sand vor einer vielfenstrigen Grotte.
Don Guilielmo beugte sich erschöpft nieder, dabei fiel ihm der merkwürdige Glanz dieses Sandes auf. Die Handvoll, die er aufnahm, um genauer hinsehen zu können, war ungewöhnlich schwer. Er nahm ein Stück zwischen die Zähne, biß darauf und begriff: Seine Hand war voller Gold!
Don Esteban entsann sich der Worte des alten Indianers und sah sich in der Grotte um. In der einen Ecke leuchtete eine senkrechte, erstarrte, völlig reglose Flamme, ein vom Wasser polierter Kristallblock. Über ihm gähnte im Felsen eine Öffnung, durch die der Himmel schien. Esteban trat an den durchsichtigen Block, der in seiner Form an einen mächtigen, in den Boden gerammten Sarg erinnerte, und blickte hinein. Zuerst sah er in der Tiefe nur Milliarden huschender Fünkchen, einen betäubenden Wirbel von Silber. Dann schien es ihm, als verdunkle sich alles ringsum, und er erkannte große Flächen von Birkenrinde, die sich zur Seite schoben. Als sie verschwunden waren, sah er, daß ihn aus der Tiefe des eisigen Klotzes jemand anschaute. Es war ein kupferfarbenes Antlitz voller scharfer Runzeln, mit Augen, so schmal wie Klingen. Je länger er hinsah, um so deutlicher zeigte sich in diesem Gesicht ein böses Lächeln. Fluchend stieß er den Dolch gegen den Block, aber die Waffe glitt wirkungslos ab. Gleichzeitig verschwand das durch sein Grinsen verzerrte Gesicht. Da Don Guilielmo zu fiebern schien, behielt sein Gefährte für sich, was er gesehen hatte.
Sie gingen weiter. Die Grotte verzweigte sich zu einem Netz von Gängen. Sie wählten den weitesten und zündeten die mitgebrachten Fackeln an. An einer Stelle öffnete sich wie ein schwarzer Rachen ein Seitengang, aus dem brandheiße Luft schlug. Sie mußten springen, um diesen Ort zu passieren. Dahinter verengte sich der Gang. Erst konnten sie noch auf allen vieren gehen, dann mußten sie robben.
Plötzlich wurde der Schlund wieder weit, sie konnten auf den Knien rutschen. Der Boden knirschte unter ihnen wie Kies, die letzte Fackel war heruntergebrannt, warf aber noch Licht genug: Sie knieten auf purem Gold.
Auch das war ihnen nicht genug. Nachdem sie den Mund und das Auge des Mazumac kennengelernt hatten, wollten sie nun auch in seine Eingeweide. Er sehe etwas, raunte Don Esteban auf einmal seinem Gefährten zu.
Guilielmo spähte ihm vergeblich über die Schulter. „Was siehst du denn?“ fragte er.
Das Ende der brennenden Fackel verbrannte Esteban schon die Finger. Plötzlich stand er auf: Die Wände waren fort, es herrschte nur tiefes Dunkel, in das die Fackel eine rötliche Grotte bohrte. Guilielmo sah, wie sein Gefährte vorwärtsschritt. Die Flamme in seiner Hand schwankte und warf gewaltige Schatten. Plötzlich erschien aus der Tiefe ein riesiges, gespenstisches Gesicht, es hing in der Luft und hielt die Augen nach unten gerichtet. Don Esteban schrie auf, es war ein furchtbarer Schrei, aber Guilielmo hatte die Worte verstanden.
Sein Gefährte hatte Jesus und die Mutter Maria angerufen, solche Worte aber rufen Männer wie Esteban nur Auge in Auge mit dem Tod. Als der Schrei verhallte, barg Guilielmo das Gesicht in den Händen. Es tat einen Donnerschlag, Flammen erfaßten ihn, und er verlor das Bewußtsein.“
Mondian Vanteneda lehnte sich zurück und blickte schweigend zwischen seinen Zuhörern ins Leere. Dunkel hob er sich vom Fenster ab, dessen Viereck sich, von den Sägezähnen des Gebirges durchschnitten, in der einfallenden Dämmerung violett färbte.
„Aus dem Oberlauf des Araquerita fischten Indianer, die auf der Hirschjagd waren, die Leiche eines weißen Mannes, der auf den Schultern eine mit Luft gefüllte Büffelhaut trug. Der Rücken war aufgeschnitten, die Rippen in Form von Flügeln nach hinten gebrochen. Die Indianer, die Angst vor den Truppen Cortez'
hatten, wollten die Leiche verbrennen, aber an ihrer Siedlung kamen berittene Kuriere Ponterones des Einäugigen vorbei, die den Toten ins Lager brachten. Man erkannte in ihm Don Guilielmo. Don Esteban ist nie zurückgekehrt.“
„Woher kennt man dann diese ganze Geschichte?“ Wie ein Mißton ließ sich diese Stimme vernehmen. Im Schein der flackernden Kerzen, die der Diener auf einem Leuchter hereinbrachte, wurde der Frager sichtbar: ein zitronenfarbenes Gesicht mit blutleeren Lippen. Es lächelte höflich.
„Ich habe am Anfang die Erzählung eines alten Indianers wiedergegeben. Er sagte, Mazumac könne mit seinem Auge alles sehen. Vielleicht hat er sich etwas mythologisch ausgedrückt, aber im Prinzip hatte er recht. Es war zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, als die Europäer noch nicht viel von den Möglichkeiten wußten, die Sehkraft durch geschliffene Gläser zu verstärken. Zwei riesige Bergkristalle, von denen man nicht weiß, ob sie durch Kräfte der Natur geschaffen oder von Menschenhand bearbeitet worden sind, waren auf dem Kopf des Mazumac und in der Grotte der Eingeweide so angeordnet, daß man, wenn man in den einen hineinblickte, alles in der Umgebung des anderen sah. Es war ein ungewöhnliches Periskop, aus zwei Spiegelprismen bestehend, die dreißig Kilometer voneinander entfernt waren. Der Indianer, der auf dem Gipfel des Kopfes stand, konnte die beiden Tempelräuber sehen, als sie die Eingeweide des Mazumac betraten. Vielleicht konnte er sie nicht nur sehen, sondern auch ihr Verderben herbeiführen.“ Mondian führte eine rasche Handbewegung aus. In den orangefarbenen Lichtkreis auf dem Tisch fiel ein Bündel Riemen, an einem Ende zu einem dicken Knoten geknüpft. Das verblichene Leder wies tiefe Schnitte auf. Es raschelte im Niederfallen, so alt und vertrocknet war es. „Es gab also jemanden“, schloß Vanteneda, „der die Expedition verfolgt und ihre Beschreibung hinterlassen hat.“
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