Schon vorher, oben auf dem Wall, wo diese Wälder noch hinter dem schwarzen Vorsprung eines Bergrückens verborgen gewesen waren, hatten sie sich durch einen weißen Schein angekündigt, als ginge dort die Sonne auf. Es war die gleiche Helle, die sich auf die Wolken des irdischen Nordmeers legt, wenn ein Schiff, noch im offenen Fahrwasser, sich den Eisfeldern nähert.
Angus schritt dem Wald entgegen. Sein Eindruck, auf einem Schiff zu stehen oder gar selbst ein Schiff zu sein, wurde noch verstärkt durch das gleichmäßige Schaukeln des Riesen, von dem er sich tragen ließ. Beim Herabsteigen von dem Steilhang hatte sein Blick noch bis zum Horizont gereicht, der sich in der Ferne in einer klaren Linie abzeichnete, und der Wald hatte von oben ausgesehen wie eine ins Tal gedrückte Wolke, deren Oberfläche sich blähte und von unerklärlichen Schauern durchzuckt wurde. Schaukelnd schritt er weiter, und die Wolke vor ihm wuchs wie der Kopf eines Gletschers. Schon konnte er lange, gewundene Zungen unterscheiden, die davon ausgingen wie Schneelawinen in unwahrscheinlich verlangsamter Bewegung. Als ihn nur noch einige hundert Schritte von den weißen Ballungen trennten, waren darin Öffnungen unterschiedlicher Weite zu erkennen wie die Mündungen größerer und kleinerer Höhlen. Dunkel hoben sie sich ab von dem glitzernden Gewirr flauschiger Zweige und gegabelter Äste aus halb trübem, halb weißem Glas. Unter seinen eisernen Schuhen raschelte scharfer, zerbrechlicher Schutt, bei jedem Schritt knackte und knirschte es. Das Duett im Kopfhörer versicherte ihm nach wie vor, daß er auf dem richtigen Kurs lag. Also schritt er vorwärts, die Motoren erhöhten ihre Umdrehungen, um den wachsenden Widerstand zu brechen, und durch ihr verstärktes Brummen hörte er das schrille Röcheln des unter seinen Knien und seinem Rumpf berstenden Dickichts. Er hatte das erste Lampenfieber abgestreift, in seinem Herzen war nicht die Spur von Angst, nur Verzweiflung. Er begriff nur allzugut: Um auch nur auf einen der Vermißten zu stoßen, müßte ihm schon ein Wunder zu Hilfe kommen. Eher hätte sich eine Stecknadel nicht nur in einem Haufen, sondern einem Gebirge von Heu finden lassen! In diesem Gestrüpp blieben ja auch keine Spuren zurück, denn die unaufhörlich den Geisern entschießenden Fontänen speisten diese ganze riesige Wolke, und jede Schneise, jeder Durchbruch verwuchs augenblicklich wie eine vernarbende Wunde. Im stillen verfluchte Angus diese auf der Welt wohl einzigartige Schönheit, die ihn hier umgab. Derjenige, der bei der Namensgebung die Anleihe im „Macbeth“ gemacht hatte, war sicherlich ein Schöngeist gewesen, aber Angus in seinem Diglator hatte keine Veranlassung, jetzt solchen Assoziationen nachzuhängen. Birnams Wald auf dem Titan war durch ein Gewirr bekannter und unbekannter Ursachen ständig in Bewegung, innerhalb der Depression, auf Tausenden, Zehntausenden Hektar, abwechselnd im Vordringen und auf dem Rückzug. Die Geiser selbst bargen keine Gefahr, da einem ihre Anwesenheit von weitem auffiel, ehe man sie noch als himmelhoch emporschießende, vibrierende Säulen der durch unterirdischen Druck verfestigten Gase sehen konnte. Allein ihr Getöse — ein Dröhnen und so durchdringendes Heulen, als brülle in den Geburtswehen der Planet selbst vor Schmerz oder Wut — brachte die Umgebung ins Wanken und riß mit der Heftigkeit einer Windhose das ganze bereits zu Schmelz erstarrte, bebende, brechende und splitternde Dickicht nieder. Man mußte ausgesprochenes Pech haben, um in die Mündung eines Geisers zu fallen, der zwischen zwei Eruptionen in zeitweiliger Ruhe lag. Leicht und in sicherer Entfernung zu umgehen waren aber diejenigen, die ihre Aktivität durch ständiges Donnern und Zischen kundtaten und das vor dem Tode zitternde weiße Gestrüpp ringsum erschütterten. Ein plötzlicher Ausbruch hingegen, selbst in einiger Entfernung, wurde meist zur Ursache eines gigantischen Bruchs. Angus klebte fast mit dem Gesicht an der Scheibe aus Panzerglas und spähte hinaus, langsam, ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzend. Er sah die milchweißen Stämme der stärksten, in der Senkrechten erstarrten Strahlen, die nur unten geschlossen und massiv waren, sich nach oben jedoch verzweigten und zu flimmernden Knäueln bauschten. Im Eisdschungel zu ebener Erde aber wuchsen schon die nächsten Gebilde in immer luftigere Etagen empor, gerannen zu Spinnweben und Skeletten, zu Hohlräumen, Kokons und Nestern, zu Bärlapp und Geißeltierchen, zu Kiemen, vom Fischkörper losgerissen, aber immer noch atmend, denn alles war hier in rieselnder Bewegung, es kroch und wand sich, aus dicken Wächten reckten sich dünne, nadlige Zweige, vereinten sich zu Bündeln, senkten sich herab, glitten fort und lagerten sich wieder übereinander in der gefrierenden klebrigen Milch, die unablässig aus unbekannten Höhen nieselte.
Kein auf der Erde entstandenes Wort konnte dieser Arbeit gerecht werden, die in einem hellen, von allen Schatten weißgewaschenen Schweigen vor sich ging, dieser Stille, außerhalb derer es doch noch ein fernes, eben erst erwachendes Grollen gab, Zeugnis des unterirdischen Zuflusses, der in die Kamine der Geiser gepreßt wurde.
Als Angus stehenblieb, um zu lauschen, wo dieses lauter werdende Donnern herkam, bemerkte er, daß Birnams Wald ihn in sich aufzunehmen begann. Er kam nicht zu ihm wie der Wald zu Macbeth, sondern wie von nirgendwo, aus der hier völlig unbewegten Luft, erschienen mikroskopisch kleine Schneeflocken, die nicht herabfielen, sondern plötzlich auf den dunklen Platten des Panzers saßen, auf den Schweißnähten der Schulterschilde. Der ganze Rumpf war schon mit diesem Schnee bestäubt, der seine Ähnlichkeit mit irdischem Schnee sogleich verlor, denn er fiel nicht nachgiebig auf die Metallflächen, sammelte sich nicht pulvrig in den Vertiefungen, sondern klebte wie weißer Sirup, keimte, trieb milchige, wollige Fasern, und ehe Angus sich dessen versah, steckte er in einem schneeigen Pelz, der sich in Tausenden kleinen Bahnen um ihn dehnte, flimmernd das Licht brach und den Diglator in eine riesige weiße Vogelscheuche, einen wunderlichen Schneemann verwandelte. Er machte eine leichte Bewegung, einen kleinen Ruck, und die erstarrten Abgüsse seiner eisernen Gliedmaßen und Schultern fielen in großen Stücken herunter. Der Aufprall verwandelte sie in Berge kleiner Splitter.
Der Glanz ließ m diesem Wallen und Strudeln phantasmagorische Formen entstehen, er blendete, erhellte aber nicht den Boden, so daß Angus eigentlich erst jetzt den Vorteil schätzen lernte, den ihm der eingeschaltete Strahler bot. Dessen unsichtbare Hitze taute in das Dickicht einen Tunnel, dem er folgte. Rechts und links hörte er immer wieder wie Kanonenschüsse den Widerhall der aus der festgefügten Unterschicht der Wolke brechenden Gasströme, und einmal kam er gar nicht weit am brausenden Federbusch eines Geisers vorbei, der sich in wütenden Ausbrüchen schüttelte und die Umgebung peitschte.
Plötzlich lichtete sich dieser Wald und bildete unter einer blasenförmig geblähten, verzweigten Kuppel so etwas wie eine Lichtung. Mitten darin lag eine große schwarze Masse. Der Betrachter erkannte die ihm zugewandten Sohlen der ineinander verklammerten eisernen Füße und den zur Seite gedrehten Rumpf, der in der Verkürzung einem Schiffswrack auf einer Sandbank glich. Der linke Arm, der obenauf war, reichte zwischen die weißen Stämme, die Hand lag im Gestrüpp verborgen. Den rechten Arm hatte der Rumpf beim Sturz unter sich begraben. Der stählerne Riese lag verrenkt am Boden, schien aber nicht völlig erledigt zu sein, denn außer den bereiften Gliedmaßen war er frei von Schnee. Über der Wölbung des Körpers zitterte leicht die Luft, erwärmt von dem immer noch Hitze ausstrahlenden Innern.
Parvis stand wie versteinert vor dem Zwillingsbruder seines Schreiters, er wagte seinen Augen nicht zu trauen, denn das unglaubliche Wunder war geschehen — die Begegnung. Schon wollte er sich melden, als er zwei Dinge auf einmal bemerkte: Unter dem gestürzten Diglator stand eine große Lache einer Öligen, gelblichen Flüssigkeit, also waren die hydraulischen Leitungen ausgelaufen, was zumindest die teilweise Bewegungsunfähigkeit bedeutete. Darüber hinaus war die Frontscheibe der Kabine, die jetzt so sehr dem ovalen Bullauge eines Schiffes ähnelte, zerschlagen. Aus den Leisten der Rahmen ragten nur die Isolationspolster. Es dampfte aus dieser finsteren Öffnung, als könne der Gigant in der Agonie nicht die Seele aushauchen. Triumph, Freude, dankbare Überraschung des Piloten wichen dem Grauen. Noch ehe er sich vorsichtig und behutsam über das Wrack beugte, wußte er, daß es verlassen war. Mit dem Scheinwerfer leuchtete er das Kabineninnere aus, lose Strippen hingen darin, an ihnen die metallene Haut.
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