Carina nahm undeutlich wahr, daß sie sich noch immer vom Dorf entfernten, aber das kümmerte sie nicht. Sie wünschte, daß dieser Augenblick ewig dauern möge, und es hätte ihr kaum etwas ausgemacht, wenn das Boot mit voller Geschwindigkeit auf den leeren Ozean hinausgefahren wäre, wo es kein Land mehr gab, bis man den Globus umschifft hatte. Kumar wußte, was er wollte — in mehr als einer Beziehung. Ein Teil ihres Vergnügens kam aus dem absoluten Vertrauen, das er ihr einflößte; in seinen Armen wußte sie nichts von Sorgen oder Problemen. Die Zukunft existierte nicht; es gab nur die zeitlose Gegenwart. Aber die Zeit verging, und jetzt stand der innere Mond viel höher am Himmel.
Im Nachspiel der Leidenschaft erforschten ihre Lippen immer noch träge die Zonen der Liebe, als die Hydrodüse zu pulsieren aufhörte und das Boot zum Stehen kam.
„Wir sind da“, sagte Kumar mit einem Hauch von Erregung in der Stimme.
Und wo mag ‚da‘ wohl sein? dachte Carina träge, während sie sich voneinander lösten. Es schienen Stunden vergangen, seit sie das letztemal einen Blick auf die Küstenlinie geworfen hatte… vorausgesetzt, sie war noch in Sicht.
Sie kam langsam auf die Füße, stemmte sich gegen das Schaukeln des Bootes — und starrte mit großen Augen auf das Märchenland, das vor nicht allzu langer Zeit noch ein öder Sumpf gewesen war, den man hoffnungsvoll aber unzutreffend Mangrovenbucht getauft hatte.
Natürlich war das nicht das erstemal, daß sie mit Hochtechnologie in Berührung kam; die Kernfusionsanlage und der Hauptkopierer auf der Nordinsel waren viel größer und eindrucksvoller. Aber als sie dieses strahlend hell erleuchtete Labyrinth von Rohren und Lagertanks, Kränen und Bedienungsmechanismen sah — diese geschäftige Kombination aus Werft und chemischer Fabrik, wo alles lautlos und gut funktionierend unter den Sternen lag, ohne daß ein einziges, menschliches Wesen in Sicht gewesen wäre — war das ein richtiger visueller und psychologischer Schock.
Plötzlich platschte etwas erschreckend laut in der Stille der Nacht, Kumar warf den Anker aus. „Komm!“ sagte er verschmitzt. „Ich möchte dir etwas zeigen.“
„Ist es auch nicht gefährlich?“
„Natürlich nicht — ich war schon so oft hier.“
Und bestimmt nicht allein, dachte Carina. Aber er war schon über die Bootswand gesprungen, ehe sie etwas bemerken konnte.
Das Wasser reichte ihnen kaum weiter als bis zur Taille und hatte noch soviel von der Hitze des Tages zurückbehalten, daß es fast unangenehm warm war. Als Carina und Kumar Hand in Hand auf den Strand zugingen, fanden sie es erfrischend, die kühle Nachtbrise am Körper zu spüren. Sie tauchten aus dem regellosen Kräuseln winziger Wellen auf wie ein neuer Adam und eine neue Eva, die die Schlüssel zu einem mechanisierten Eden bekommen hatten.
„Keine Angst!“ beruhigte sie Kumar. „Ich kenne mich hier aus. Dr. Lorenson hat mir alles erklärt. Aber ich habe etwas gefunden, was er sicher nicht weiß.“
Sie gingen an einer Reihe von dick isolierten Röhren entlang, die auf Stützen einen Meter über den Boden ruhten, und nun konnte Carina zum erstenmal deutlich ein Geräusch hören — das Pochen von Pumpen, die durch das sie umgebende Labyrinth von Rohren und Wärmeaustauschern Kühlflüssigkeit drückten.
Schließlich kamen sie zu dem berühmten Becken, in dem man den Skorp gefunden hatte. Jetzt war nur sehr wenig Wasser zu sehen; die Oberfläche war fast völlig mit einer verfilzten Tangmasse bedeckt. Auf Thalassa gab es keine Reptilien, aber die dicken, biegsamen Stengel erinnerten Carina an umeinandergewickelte Schlangen. Sie gingen eine Reihe von Kanälen entlang, an kleinen Schleusentoren vorbei, die im Augenblick alle geschlossen waren, bis sie, weit abseits von der Hauptanlage, eine große, offene Fläche erreichten. Als sie den Hauptkomplex verließen, winkte Kumar fröhlich in die Linse einer Überwachungskamera. Später konnte niemand mehr feststellen, warum sie im kritischen Augenblick ausgeschaltet gewesen war.
„Die Gefriertanks“, sagte Kumar. „Jeder faßt sechshundert Tonnen. Fünfundneunzig Prozent Wasser, fünf Prozent Tang. Was findest du so komisch?“
„Nicht komisch — aber sehr sonderbar“, sagte Carina, immer noch lächelnd. „Stell dir doch nur vor — sie tragen einen Teil unseres Ozeanwaldes bis zu den Sternen hinauf. Wer käme je auf so etwas? Aber deshalb hast du mich doch nicht hierhergebracht.“
„Nein“, gestand Kumar leise. „Schau…!“
Zuerst konnte sie nicht sehen, worauf er zeigte. Dann interpretierte ihr Geist das Bild, das ganz am Rand ihres Blickfeldes flackerte, und sie verstand.
Natürlich war es ein altes Wunder. Seit mehr als tausend Jahren schon hatten Menschen so etwas auf vielen Welten gemacht. Aber als sie es jetzt mit eigenen Augen sah, war es mehr als atemberaubend, es war ehrfurchteinflößend.
Als sie näher an den letzten Tank herangegangen waren, konnte sie es deutlicher erkennen. Der dünne Lichtfaden — er konnte nicht mehr als ein paar Zentimeter breit sein! — zog sich hinauf zu den Sternen, absolut gerade wie ein Laserstrahl. Ihre Augen folgten ihm, bis er immer schmaler und schließlich unsichtbar wurde und sie reizte, die Stelle, wo er verschwand, genau zu bestimmen. Und immer noch ging ihr Blick weiter, schwindelerregend, bis sie direkt in den Zenit starrte und auf den einzelnen Stern, der bewegungslos dort schwebte, während alle seine blasseren, natürlichen Gefährten stetig an ihm vorbei nach Westen wanderten. Wie eine kosmische Spinne hatte die ‚Magellan‘ einen Faden heruntergelassen und würde bald das kostbare Gut hinaufziehen, das sie von der Welt unter sich begehrte.
Jetzt, wo sie direkt am Rande des wartenden Eisblocks standen, erlebte Carina noch eine Überraschung. Seine Oberfläche war völlig von einer glitzernden Schicht Goldfolie bedeckt und erinnerte sie an die Geschenke, die man Kindern an ihrem Geburtstag oder beim alljährlichen Landefest machte.
„Isolierung“, erklärte Kumar. „Und es ist wirklich Gold — ungefähr zwei Atome dick. Ohne das würde das Eis halb wegschmelzen, bis es zum Schild hinaufkäme.“
Ob Isolation oder nicht, Carina spürte, wie die Kälte beißend durch ihre bloßen Füße drang, als Kumar sie auf die gefrorene Platte hinausführte. Nach einem Dutzend Schritten erreichten sie ihr Zentrum, und da leuchtete sonderbar nichtmetallisch das straffe Band, das sich, wenn nicht zu den Sternen, so doch wenigstens die dreißigtausend Kilometer bis hinauf zu dem stationären Orbit spannte, in dem die ‚Magellan‘ sich befand.
Es endete in einer zylindrischen, mit Instrumenten und Steuerdüsen gespickten Trommel, die eindeutig als beweglicher, intelligenter Kranhaken diente, der nach seinem langen Sinkflug durch die Atmosphäre seine Ladung ansteuerte. Die ganze Anordnung wirkte überraschend einfach, sogar simpel — was, wie bei den meisten Produkten reifer, fortgeschrittener Techniken, eine Täuschung war.
Carina schauderte plötzlich, und zwar nicht von der Kälte unter ihren Füßen, die sie jetzt kaum noch bemerkte. „Bist du sicher, daß es hier nicht gefährlich ist?“ fragte sie ängstlich.
„Natürlich. Sie ziehen immer um Mitternacht hoch, auf die Sekunde — und bis dahin sind es noch Stunden.
Es ist ein großartiger Anblick, aber ich glaube nicht, daß wir so lange bleiben werden.
Jetzt kniete Kumar nieder und legte sein Ohr an das unglaubliche Band, das Schiff und Planet zusammenhielt. Wenn es zerriß, fragte sie sich ängstlich, würden sie dann auseinandergeschleudert werden?
„Hör zu!“ flüsterte sie…
Sie hatte nicht gewußt, was ihr bevorstand. Manchmal, in späteren Jahren, als sie es ertragen konnte, hatte sie versucht, den Zauber dieses Augenblicks zurückzurufen. Sie konnte nie sicher sein, ob es ihr gelungen war.
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