Lal Leonidas und seine Frau hatten immer noch kein Wort gesprochen, aber irgendwie wußte Loren, daß sie sich entschieden hatten.
„Wir wissen Ihr Angebot zu schätzen, Kommandant Lorenson; bitte übermitteln Sie Kapitän Bey unseren Dank.
Aber wir brauchen keine Bedenkzeit. Was auch geschieht, Kumar ist für uns auf immer verloren.
Selbst wenn Sie Erfolg haben — und wie Sie sagen, gibt es dafür keine Garantie — wird er in einer fremden Welt aufwachen und wissen, daß er seine Heimat nie wiedersehen wird und daß all jene, die er geliebt hat, seit Jahrhunderten tot sind. Man darf gar nicht daran denken. Sie meinen es gut, aber es wäre keine Wohltat für ihn.
Wir wissen, was er gewollt hätte und was geschehen muß. Geben Sie ihn uns zurück! Wir werden ihn dem Meer übergeben, das er geliebt hat.“
Weiter gab es nichts mehr zu sagen. Loren verspürte eine überwältigende Traurigkeit, aber auch eine gewaltige Erleichterung.
Er hatte seine Pflicht getan. Es war die Entscheidung, mit der er gerechnet hatte.
Jetzt würde das kleine Kajak niemals fertiggestellt werden; aber es würde seine erste und seine letzte Reise antreten.
Bei Sonnenuntergang war es am Rand des Wassers gelegen, und die sanften Wellen der gezeitenlosen See hatten an ihm geleckt. Loren war gerührt, aber nicht überrascht, als er sah, wieviele Menschen gekommen waren, um Kumar die letzte Ehre zu erweisen. Ganz Tarna war hier, aber auch von der ganzen Südinsel waren viele gekommen — und sogar von der Nordinsel. Obwohl einige vielleicht von morbider Neugier hergetrieben worden waren — denn die ganze Welt war erschüttert von dem einzigartig sensationellen Unfall — hatte Loren noch nie einen so echten Ausbruch von Trauer erlebt. Er hatte nicht gewußt, daß die Lassaner solch tiefer Gefühle fähig waren, und im Geiste kostete er noch einmal eine Bezeichnung aus, die Mirissa gefunden hatte, als sie in den Archiven nach Trost suchte. ‚Kleiner Freund aller Welt.‘ Woher dieses Wort kam, war nicht mehr bekannt, und niemand konnte erraten, welcher lang verstorbene Gelehrte es in welchem Jahrhundert für kommende Zeiten aufgespart hatte.
Nachdem Loren Mirissa und Brant in wortlosem Mitgefühl umarmt hatte, ließ er sie mit der Familie Leonidas allein, bei der sich zahlreiche Verwandte von beiden Inseln zusammengefunden hatten. Er wollte keine Fremden treffen, denn er wußte, was viele von ihnen wohl dachten: „Er hat dich gerettet — aber du konntest ihn nicht retten.“ Das war eine Last, die er für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen würde.
Er biß sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten, die sich für einen höheren Offizier des größten Sternenschiffes, das jemals gebaut worden war, nicht ziemten, und spürte, wie ihm ein Verteidigungsmechanismus des Denkens zu Hilfe kam. In Augenblicken tiefer Trauer kann man manchmal nur dadurch verhindern, daß man die Fassung verliert, indem man etwas völlig Unpassendes — sogar Komisches — aus den Tiefen des Gedächtnisses heraufbeschwört.
Ja — das Universum hatte einen sonderbaren Sinn für Humor. Loren mußte fast ein Lächeln unterdrücken; wie hätte Kumar diesen letzten Streich genossen, den es ihm gespielt hatte!
„Seien Sie nicht überrascht“, hatte Kommandantin Newton gewarnt, als sie die Tür der Leichenkammer des Schiffes öffnete und ihnen ein Schwall eiskalter, formalingeschwängerter Luft entgegenquoll. „Es passiert öfter, als man glaubt. Manchmal ist es ein letzter Kampf — fast wie ein unbewußter Versuch, dem Tod zu trotzen. Diesmal wurde es vermutlich durch den Verlust des Außendruckes und das darauffolgende Gefrieren ausgelöst.“
Wären da nicht die Eiskristalle gewesen, die die Muskeln des herrlichen, jungen Körpers nachzeichneten, Loren hätte glauben können, Kumar schliefe nicht nur, sondern schwelge in den schönsten Träumen. Denn im Tode wirkte der Kleine Löwe sogar noch weit männlicher, als er es im Leben jemals gewesen war.
Die Sonne war hinter den niedrigen Hügeln im Westen verschwunden, und ein kühler Abendwind stieg vom Meer her auf. Kaum die Wellen kräuselnd glitt das Kajak ins Wasser, gezogen von Brant und drei anderen von Kumars engsten Freunden. Zum letzten Mal erhaschte Loren einen Blick auf das ruhige, friedvolle Gesicht des Jungen, dem er sein Leben verdankte.
Bis jetzt war nicht viel geweint worden, aber als die vier Schwimmer das Boot langsam vom Ufer wegschoben, erhob sich von der versammelten Menge ein lautes Klagegeheul. Jetzt konnte auch Loren die Tränen nicht länger zurückhalten, und es war ihm egal, ob sie jemand sah.
Das kleine Kajak fuhr unter dem kraftvollen Zug seiner Begleiter rasch und gleichmäßig auf das Riff zu. Die schnelle, thalassanische Nacht senkte sich schon hernieder, als es zwischen den zwei blitzenden Leuchttürmen hindurchglitt, die die Fahrrinne ins offene Meer hinaus markierten. Es verschwand hinter ihnen und wurde einen Augenblick lang von der weißen Linie der Brandungswellen verdeckt, die träge von außen gegen das Riff schäumten.
Das Klagen verstummte; alle warteten. Dann loderte es plötzlich hell vor dem dunklen Himmel auf, und eine Feuersäule stieg aus dem Meer. Sie brannte sauber und wild, fast ohne Rauch; wie lange es dauerte, konnte Loren nicht sagen, denn auf Tarna war die Zeit stehengeblieben.
Dann fielen die Flammen plötzlich zusammen; die Feuerkrone schrumpfte und sank zurück ins Meer. Alles war dunkel; aber nur einen Augenblick lang.
Als Feuer und Wasser sich trafen, schoß eine Fontäne von Funken in den Himmel hinauf. Der größte Teil der glühenden Asche fiel ins Meer zurück, aber Teilchen davon schwebten weiter nach oben, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
Und so stieg Kumar Leonidas ein zweitesmal zu den Sternen auf.
Achter Teil
Das Lied der fernen Erde
Das Hochziehen der letzten Schneeflocke hätte ein freudiges Ereignis sein sollen; jetzt war es nur Anlaß zu düsterer Befriedigung. Dreißigtausend Kilometer über Thalassa wurde das letzte Sechseck aus Eis an Ort und Stelle bugsiert, und dann war der Schild komplett.
Zum erstenmal in fast zwei Jahren wurde der Quantenantrieb aktiviert, aber nur mit minimaler Leistung. Die ‚Magellan‘ löste sich aus ihrem stationären Orbit und beschleunigte, um die Ausgewogenheit und die Haltbarkeit des künstlichen Eisbergs zu testen, den sie mit hinaus zu den Sternen nehmen wollte. Es gab keine Probleme; es war gute Arbeit geleistet worden… Kapitän Bey war deshalb sehr erleichtert, er hatte nie vergessen können, daß Owen Fletcher (der jetzt ausreichend streng bewacht auf der Nordinsel lebte) einer der Hauptkonstrukteure des Schilds gewesen war. Und er fragte sich, was wohl in Fletcher und den anderen Sabras vorgegangen war, als sie der Einweihungszeremonie zusahen. Es hatte mit einem Video-Rückblick angefangen, der den Bau der Gefrieranlage und das Hochziehen der ersten Schneeflocke zeigte. Dann hatte man ein faszinierendes Weltraumballett in Zeitraffertechnik vorgeführt, das zeigte, wie die großen Eisblöcke an die richtige Stelle geschoben und in den stetig wachsenden Schild eingefügt wurden. Es hatte in Normalzeit angefangen und war dann stark beschleunigt worden, bis zum Schluß alle paar Sekunden ein Abschnitt eingefügt wurde. Thalassas führender Komponist hatte eine fröhliche Begleitmusik dazu geschrieben, die mit einer langsamen Pavane begann, in einer atemlosen Polka gipfelte und schließlich ganz am Ende, als der letzte Eisblock an Ort und Stelle bugsiert wurde, wieder in ein normales Tempo fiel.
Dann war auf eine Live-Kamera umgeschaltet worden, die einen Kilometer vor der ‚Magellan‘, deren Bahn im Schatten des Planeten lag, im Raum schwebte. Die große Sonnenschutzwand, die das Eis während des Tages abschirmte, war zur Seite gerückt worden, so daß jetzt zum erstenmal der gesamte Schild sichtbar war.
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