Dieses Problem mußte schnellstens gelöst werden. Wir fanden die Lösung, als wir uns überlegten, daß unsere Versuche ein unbeabsichtigtes Ergebnis gehabt hatten — zum erstenmal existierten in dem uns bekannten Universum zwei identische Gehirne zur gleichen Zeit. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, daß die riesige Entfernung zwischen ihnen für ihre Gedanken kein größeres Hindernis darstellte, als ein Kreidestrich über den Pfad eines Wanderers, über den er achtlos hinwegschreitet. Von mir aus nennen Sie es sogar Telepathie …« Hawks zog einen Augenblick verächtlich die Mundwinkel herab.
»Selbstverständlich bestand nie Aussicht auf einen echten Gedankenaustausch, denn die beiden Gehirne waren schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr völlig miteinander identisch. Die beiden Freiwilligen nahmen verschiedene Sinneseindrücke wahr und speicherten diese Erfahrungen in ihren Gehirnzellen. Die Verbindung zwischen den beiden Gehirnen wur de schnell schwächer und riß schließlich völlig ab. M und L waren nicht mehr der gleiche Mensch.
Verstehen Sie mich richtig, die beiden Freiwilligen konnten nie miteinander ›sprechen‹. Um die Gedanken eines Mannes lesen zu können, muß man dieser Mann sein, muß sein Leben führen und seine Arbeit tun. Selbst in unserem Ausnahmefall konnte es nur einen Augenblick so erscheinen, als seien die beiden Menschen ein Wesen.«
Hawks sah auf und nickte Gersten zu, der neben dem Empfänger stand und ihn beobachtete. Dann wandte er sich wieder an Barker.
»Dann erkannten wir, daß dies ein erfolgversprechender Weg war, um einen Mann genau zu beobachten, der sich innerhalb des Gebildes befand, und veränderten die äußeren Umstände unserer Versuche dementsprechend. Barker M wird in dem Empfänger auf dem Mond erscheinen, wo er nicht mehr unter dem Einfluß von Betäubungsmitteln steht, die seiner Atemluft nur eine bestimmte Zeit beigemischt werden. Er wird wieder zu Bewußtsein kommen, sich normal bewegen und ungestört beobachten können. Aber Barker L steht nach wie vor unter unserer Kontrolle. Er bleibt in seinem Anzug isoliert und ist keinerlei Einflüssen von außerhalb ausgesetzt. Die einzigen Eindrücke, die sein Gehirn während dieser Zeit erhält, kommen aus Barker M's Gehirn.
Barker L bildet sich also ein, sich ebenfalls auf dem Mond im Inneren des Gebildes zu befinden. Er weiß nicht, daß er in Wirklichkeit Barker L ist. Praktisch bedeutet das, daß sein Gehirn alle Eindrücke registriert, denen Barker M's Körper ausgesetzt ist. Dabei ist natürlich nicht zu verhindern, daß der Kontakt zwischen den beiden Gehirnen allmählich schwächer wird, weil der Metabolismus der beiden Körper im Lauf der Zeit voneinander abweicht. Aber theoretisch wäre eine Verbindung denkbar, die etwa zwanzig Minuten anhält — obwohl dieser Wert selbstverständlich noch nie erreicht wurde.
Wenn Sie Rogans Leiche erreichen, wissen Sie, daß Sie die Grenze des bisher erkundeten Gebiets erreicht haben. Wir wissen nichts über seine Todesursache. Es spielt auch keine große Rolle, Sie dürfen nur nicht das gleiche tun. Vielleicht gibt Ihnen die Lage der Leiche einen Hinweis. Wenn das zutrifft, haben wir wenigstens etwas durch seinen Tod dazugelernt. Als Rogan L fühlte, daß Rogan M dort oben den Tod fand, war er für sämtliche anderen Sinneseindrücke nicht empfänglich. Ihnen wird es genauso gehen.
Barker M's Geist wird mit seinem Körper sterben, wie auch immer dieser Körper zerstört werden wird. Hoffen wir, daß er es länger als zweihundertzweiunddreißig Sekunden aushält. Und Barker L's Geist, der sich hier befindet, wird diesen Tod ebenfalls emp finden, weil sein Gehirn keinen anderen Eindrücken ausgesetzt sein wird. Barker L wird den Schmerz, den Schock und die unbeschreibliche Verzweiflung fühlen, die sein Tod mit sich bringt. Das hat bisher noch niemand ertragen können. Selbst die intelligentesten und emotional stabilsten Freiwilligen wurden dabei verrückt. Sie waren ohne Ausnahme nicht mehr in der Lage, zusammenhängend über ihre Erfahrungen zu berichten, und der Aufwand für unsere Versuche war vergebens.«
Barker sah zu Hawks auf. »Na, das ist aber wirklich schade, Doktor.«
»Wie soll ich denn Ihrer Meinung nach darüber sprechen?« fuhr Hawks auf. Die Zornesader auf seiner Stirn trat auffallend stark hervor. »Soll ich Ihnen erzählen, was wir hier zu tun haben, oder wollen wir über etwas anderes sprechen? Wollen Sie mit mir einen Streit über meine moralischen Grundsätze anfangen? Wollen Sie behaupten, daß ich ein Mörder bin, weil einer der beiden Menschen auf dem Mond sterben wird? Wollen Sie mich vor ein Gericht zerren, damit ich auf den elektrischen Stuhl komme? Wollen Sie in Gesetzbüchern nachschlagen, um zu sehen, welche Strafen einen Mann erwarten, der wiederholt andere systematisch in den Wahnsinn getrieben hat? Hilft uns das hier? Wird unsere Aufgabe dadurch leichter? Erreichen wir deshalb unser gestecktes Ziel eher?
Lassen Sie sich auf den Mond schicken, Barker. Sterben Sie dort. Und wenn Sie dann feststellen, daß Sie den Tod wirklich so lieben, wie Sie bisher geglaubt haben, sind Sie vielleicht der erste, der normal genug zurückkehrt, um sich an mir rächen zu können!« Hawks griff nach dem schweren Deckel, der das Oberteil von Barkers Anzug verschließen sollte, und knallte ihn zu. Er stützte sich mit beiden Händen darauf, bis sein Gesicht sich ganz dicht an der Öffnung in Barkers Helm befand. »Aber bevor Sie das tun, werden Sie mir verraten, wie ich es beim nächstenmal bessermachen kann.«
Zwei Techniker schoben Barker in den Materie-Transmitter. Die Seitenmagneten ließen ihn frei schweben, und der Tisch wurde unter ihm herausgezogen. Die Stahltür schloß sich lautlos, dann wurden die restlichen Elektromagneten eingeschaltet, um ihn in einer Stellung für den Abtaster zu fixieren. Hawks nickte Gersten zu, und Gersten drückte auf den Bereitschaftsknopf.
Auf dem Dach des Laboratoriums befand sich eine Radarantenne, deren Strahlungsbereich sich mit dem der Übertragungsantenne des Transmitters deckte. Der Parabolreflektor war jetzt genau auf den Mond eingerichtet. Will Martins sah zu dem Radartechniker hinüber und machte eine kurze Handbewegung. Ein Hochfrequenzimpuls wurde zum Mond abgestrahlt und kehrte zurück. Die dazu benötigte Zeit, die Impulsleistung, die Impulsdauer und die Impulsfolgefrequenz wurden einer Datenverarbeitungsanlage eingegeben, die daraus die Verzögerungszeit für den Laboratoriumsempfänger errechnete. Der Materie-Transmitter sandte ein verschlüsseltes UKW-Signal aus, das die Sperre des Mondempfängers außer Betrieb setzte, die sonst verhindert hätte, daß der MImpuls aufgenommen wurde.
Gersten sah auf das Schaltpult hinunter und wandte sich an Hawks. »Sämtliche Stufen grün.«
»Los!« kam Hawks' Kommando sofort.
Über der Tür der Transmitterkammer glühte ein rotes Licht auf, und ein neues Band raste von einer Spule zur anderen. Einskomma-sechsundzwanzig Sekunden später lief der erste Zentimeter dieses Bandes bereits wieder durch ein zweites Gerät, das die darauf gespeicherten Informationen an den Laboratoriumsempfänger weiterleitete. Gleichzeitig damit erreichte der ausgestrahlte Impuls den Mond.
* * *
Die letzten Zentimeter des Bandes wanden sich um die zweite Spule. Über der Empfängerkammer flammte das grüne Licht auf. Barker L's schwere Atemzüge drangen aus dem Lautsprecher. »Ich bin hier, Doktor«, sagte er heiser.
Hawks stand mitten im Raum, hatte die Hände in den Hosentaschen und starrte gedankenverloren vor sich hin.
Einige Sekunden später war Barkers wütende Stimme wieder zu hören. »Schon gut, schon gut, ihr verdammten Seebären, ich kann selbst gehen!« Er fluchte laut. »Keinen Ton geben sie von sich, aber dafür treiben sie mich um so mehr an.«
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