Es war seltsam still hier, aber wahrscheinlich kam ihm das nur so vor. Er erkannte, daß der kleine See, der kaum mehr als hundert Meter Durchmesser aufwies, keinen Abfluß hatte, jedenfalls konnte er keinen entdecken. Der Fluß, an dem sie entlanggelaufen waren, mündete eindeutig in das Gewässer, schien aber nirgends wieder hinauszuführen, sondern tatsächlich in die Höhle zu fließen. Kurz vor dem Höhleneingang endete die Eis- und Schneeschicht, und man sah einen spiegelglatten Fleck pechschwarzen Wassers. Einzelne kleine Eisschollen hatten sich gelöst und trieben in die Finsternis des Berges.
»Mannomann, das ist ja Wahnsinn«, murmelte Micha vor sich hin.
»Was sagst du?« fragte Tobias, der ein paar Meter vor ihm ging und sich jetzt umdrehte.
»Ich sagte, daß es Wahnsinn ist, da hineinzufahren.«
»Hast du Angst?«
»Du nicht?«
»Ein bißchen, doch, klar hab ich Angst.« Er lief noch ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen.
»Hier ist es!«
Das Boot beziehungsweise das, was man von ihm unter der dicken Schneeschicht noch erkennen konnte, war überraschend groß. Es sah so aus, als ob es zwei Ruderbänke hätte und sowohl im Heck als auch im Bug Sitzflächen, unter denen eine ganze Menge Stauraum vorhanden war. Irgendwie beruhigte ihn der Anblick des Kahns mit seinen vom Schnee abgerundeten Formen.
»Ich habe es Titanic getauft, weil es uns zu den Titanen führen soll«, sagte Tobias.
»Sehr sinnig.«
»Die hier kann nicht untergehen.«
»Das haben die Leute damals auch gesagt.« Micha wuchtete endlich den schweren Rucksack von seinem Rücken und setzte ihn vorsichtig im Uferschnee ab. »Aber ich gebe zu, es gefällt mir.« Er grinste.
Zusammen machten sie sich daran, das Boot von den Schneemassen zu befreien, und während Micha sich danach ans Ufer hockte, eine Zigarette anzündete und mit einer Mischung aus Faszination und Grauen auf die dunkle Höhle gegenüber starrte, sprang Tobias wieder in das Boot und zeigte ihm stolz allerhand Gerätschaften, die er unter der Hecksitzbank hervorzauberte: eine Petroleumlampe, zwei angerostete Kanister, einen kurzen Spaten, einen Gummihammer, eine Axt, schließlich sogar eine Angel.
»Wo hast du denn das alles her?« fragte Micha erstaunt und belustigt zugleich. All das war seltsam unwirklich. In seinem Magen machte sich ein Kribbeln bemerkbar.
Tobias lachte. Er schien jetzt ganz in seinem Element zu sein. Sein geschäftiges Poltern, das von der gegenüberliegenden Felswand zurückschallte, bildete einen seltsamen Kontrast zu der winterlichen Stille.
»Reich mir doch mal die Rucksäcke rüber«, rief er Micha zu, während er versuchte, den leeren Koffer unter die hintere Sitzbank zu schieben.
»Dacht ich mir’s doch! Absolute Maßarbeit!« Tatsächlich paßte der Koffer genau hinein. »Der zweite hat auch noch Platz.« Schließlich setzte er sich auf eine der Ruderbänke und schaute wie Micha über die unberührte Schneefläche des Sees.
»Morgen geht’s los«, sagte er in die Stille hinein und lächelte dabei.
»Mhm«, machte Micha und zog so kräftig an seiner Zigarette, daß er husten mußte. »Und wo ist der Eisbrecher?«
Tobias sagte nichts, sondern schlug mit dem Ruder auf das Eis. Es brach sofort. Wasser spritzte auf.
Plötzlich knackte es ganz in der Nähe im Wald, und ihre beiden Köpfe fuhren herum. Es raschelte, und dann war wieder Ruhe. Einen Moment später kläffte irgendwo ein Hund.
»Komm, wir räumen den Koffer ein und gehen zurück«, sagte Tobias und stand auf. Micha erhob sich ebenfalls, kletterte in das sanft schaukelnde Boot, und zusammen packten sie ihren Proviant aus den Rucksäcken in den alten Koffer um. Anschließend schoben sie ihn wieder unter die Bank, legten die anderen Utensilien darauf und wollten gerade aus der Titanic klettern, als sie plötzlich eine Stimme hörten, die Micha seltsam bekannt vorkam.
»Wo wollt ihr denn hin mit dem ganzen Zeug?«
Im nächsten Moment fegte ein kleines haariges Wesen durch das Unterholz und blieb hechelnd und mit Schnee bepudert am Ufer sitzen. Es war ein Dackel, ein Rauhhaardackel, der fröhlich mit dem Schwanz wedelte. Micha bekam einen solchen Schreck, daß er fast aus dem schwankenden Boot gefallen wäre.
»Mach’n Mund zu, es zieht!« sagte Claudia, die neben den Baum trat, an dem das Boot festgemacht war. Sie meinte Tobias, dem vor Verblüffung der Unterkiefer heruntergeklappt war.
»Du bist wohl Tobias?« fragte sie ihn und grinste.
»Kennst du die?« Er drehte den Kopf zu Micha und zeigte ungläubig auf Claudia.
»Ja«, sagte Micha, weniger verblüfft über ihr Erscheinen, als er es eigentlich sein sollte. »Das ist Claudia.«
»Und das ist Pencil«, sagte sie und deutete auf den Hund.
»Aha, und was habt ihr hier zu suchen?« fragte Tobias.
»Wieso? Ist das hier dein Privatwald?« antwortete Claudia herausfordernd.
»Wie kommst du denn hierher?« fragte Micha, kletterte aus dem Boot und baute sich neben ihr auf.
»Mit dem Morgenbus.« Sie zwinkerte ihm zu. »War nicht besonders schwierig, eurer Spur zu folgen. Ihr seid so auffällig wie zwei bunte Hunde. Ich hab den Leuten was vorgeheult, daß ich meine Freunde verloren hätte. Was meinst du, wie hilfsbereit die Menschen werden, wenn eine schluchzende junge Frau vor ihnen steht.«
»He!« rief Tobias, der immer noch im Boot stand. »Was soll das hier darstellen, ne Art Familienzusammenführung oder was?« Er starrte sie feindselig an.
»Quatsch! Ich kenn sie vom Studium her. Sie ist Botanikerin, und ich hatte ihr damals die Pflanze gezeigt.«
»Was?« schrie Tobias. »Du hast ihr die Pflanze gezeigt? Ich hatte dich doch gebeten, niemandem davon zu erzählen.«
»Jetzt mach aber mal halblang, ja!« gab Micha zurück. »Du schickst mir diese bescheuerte Pflanze und willst wissen, was das ist, behauptest, sie sei aus der Slowakei. Warum soll ich da nicht jemanden fragen, der davon mehr Ahnung hat als ich, he? Wie sollte ich bei deiner beschissenen Geheimniskrämerei wissen, was wirklich dahintersteckt?«
Er zeigte auf Claudia, die ihre Auseinandersetzung mit sichtlichem Vergnügen verfolgte. Wahrscheinlich hatte sie mit so etwas gerechnet. »Und außerdem hatte ich keine Ahnung . ich meine, ich weiß auch nicht, wie sie darauf kommt, uns hierher zu folgen.«
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Micha«, schaltete sich Claudia ein. »Diese Pflanze wächst weder in der Slowakei noch in Indonesien, sondern ist seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, basta. Da hat mich natürlich interessiert, was dahintersteckt, wenn du entschuldigst. Und dann erzählst du mir auch noch, daß du mit Tobias in die Slowakei fahren willst, genau dahin, wo die Pflanze ja angeblich herstammte, und mit demselben Tobias, über den du dich kurz vorher noch schwarz geärgert hast. Da hab ich eins und eins zusammengezählt, und hier bin ich.«
»Scheiße!« sagte Tobias, hockte sich wieder auf die Sitzbank und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Und was willst du nun hier, wenn ich mal fragen darf?«
»Na, ich komme mit euch, ist doch klar. Ich will auch wissen, wo diese Pflanze herkommt«, sagte Claudia selbstbewußt.
»Dann hast du doch eine Karte kaufen wollen.« Claudia zuckte mit den Schultern und grinste Micha an.
»Was?« fragte Tobias aufgebracht.
»Ach, nichts!« Micha hockte sich ans Ufer und stocherte unschuldig mit einem Holzstöckchen im Schnee herum.
»Also nur über meine Leiche. Diese Tussi kommt mir nicht ins Boot«, sagte Tobias, kletterte aus der Titanic und begann wütend Steine auf das Eis zu werfen. Es antwortete mit einem seltsamen flirrenden Laut.
»Jetzt spiel dich hier bloß nicht als Chef auf, ja, sonst kannst du nämlich gleich alleine losfahren.« Micha ärgerte Tobias’ Art, schließlich war Claudia eine Freundin von ihm, wenn auch hier sehr unerwartet. »Willst du sie wieder nach Hause schik-ken?«
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