Er hatte Glück. Im Präparationsraum wurde im Augenblick nur an zwei Stücken gearbeitet. Obwohl Sabine ihm wahrscheinlich die Augen auskratzen würde, wenn er es jemals wagen sollte, eine solche Bewertung in ihrer Gegenwart abzugeben, aber da waren nur die Fledermaus, die sie gerade freilegte, und eine vollständig präparierte Beutelratte, keins der ganz bedeutenden Fundstücke also. Lehmke und Kaiser hatten ihre Arbeiten gerade abgeschlossen. Die Präparate waren noch am selben Tag nach Frankfurt ins Museum geschafft worden. Sabine würde er allerdings nie wieder ins Gesicht sehen können. Er wußte, daß sie am Boden zerstört sein würde. Erst lösten sich ihre Fossilien einfach in Luft auf, und dann wurden ihr auch noch welche gestohlen. Ihr mußte das Ganze wie eine Verschwörung vorkommen. Ohne hinzusehen stopfte er die beiden Präparate in einen weiteren Müllsack. Die Arbeit von Wochen. Es tat ihm in der Seele weh, aber er mußte sie verschwinden lassen. Es ging nicht anders.
Draußen schloß er die Haustür, verstaute den Beutel im Auto und ging anschließend mit dem Brecheisen zurück zum Haus, um die Flügeltür zum Präparationsraum aufzubrechen. Irgendwie mußten sie ja in das Haus gelangt sein. Teufel noch mal, es war wie der Amoklauf eines Wahnsinnigen, der blindwütig seine Zerstörungswut austobte.
Gerade, als er das Eisen ansetzen wollte, hörte er Stimmen. Er erstarrte.
Aus! Vorbei! Wieviel bekam man für Hausfriedensbruch, Diebstahl und mutwillige Zerstörung fremden Eigentums? Seinen Job konnte er auch vergessen.
Die Stimmen wurden wieder leiser. Es waren nur zwei Spaziergänger, wahrscheinlich Leute aus der benachbarten Wohnsiedlung, die ihren Hund Gassi führten und draußen am Zaun der kleinen Grünanlage vorbeischlenderten. Er ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen und mußte grinsen. Himmelherrgott, er war ein einziges Nervenbündel. Glücklicherweise lag die Tür zum Präparationsraum auf der wegabgewandten Seite des Hauses. Er lauschte, wartete zur Sicherheit noch ein paar Minuten, dann setzte er das Brecheisen an und drückte zu. Es fühlte sich an, als zersplitterten seine eigenen Knochen.
Endlich im Auto sitzend legte er die Stirn auf das Lenkrad und atmete tief durch. Er überlegte fieberhaft, ob er vielleicht etwas vergessen hatte, irgendeine dumme Kleinigkeit. Wenn herauskam, daß er dies alles angerichtet hatte, dann ...
Die Kaffeemaschine!
Er sprang aus dem Wagen und stürzte wieder ins Haus. Ja, er hatte sie angelassen, und da stand ja auch noch seine Tasse mit dem mittlerweile kalten Kaffee. Er hatte kaum etwas davon getrunken. Dilettantisch!
Erst eine gute Stunde später kam er langsam zur Ruhe. Den Schiefer hatte er einfach in eine stillgelegte Kiesgrube geworfen. Spätestens morgen war alles zerfallen, nur noch Trümmer, die niemandem auffallen würden.
Ja, es war ein guter Plan. Alle würden an einen simplen Einbruch glauben. Die Diebe wollten reichlich Beute machen, erwischten dabei aber einen Tag, an dem nur wenig zu holen war.
Künstlerpech, dachte er und lachte vor sich hin. Daß der Block mit Tobias’ Überresten verschwunden war, würde, wenn überhaupt, erst in ein paar Monaten auffallen. Und dann würde er es mit dem Einbruch in Verbindung bringen. Da unten stand einfach zuviel herum, als daß sie jederzeit den genauen Überblick behielten.
Vielleicht hatte die ganze Angelegenheit sogar den angenehmen Nebeneffekt, daß die Senckenberg-Stiftung ihnen eine neue Schloßanlage für die Station spendierte. Die alte war ziemlich marode, und es war eigentlich ein Wunder, daß nicht schon früher Diebe zugeschlagen hatten.
Das Problem war aus der Welt, nicht aber aus seinem Kopf. Auch wenn er sich jetzt erleichtert fühlte, für ihn würde die Welt nie wieder so aussehen wie zuvor, darüber machte er sich keine Illusionen. Wie er damit fertig werden würde, mußte die Zukunft zeigen. Schlimmstenfalls mußte er eben kündigen und sich irgendwo einen anderen Job suchen. Dieser Gedanke hatte nach allem, was er erlebt hatte, viel von seinem Schrecken verloren. Schließlich hatte er am Ufer des wirklichen Messeler Sees gestanden, auch wenn er in diesem Moment nur daran gedacht hatte, Tobias nicht aus den Augen zu verlieren. Und danach, sein Versagen vor Augen, stand ihm der Sinn erst recht nicht nach intensiver Naturbetrachtung. Eigentlich schade, daß er so wenig davon mitbekommen hatte.
Er fuhr auf die Landstraße Richtung Darmstadt und pfiff leise vor sich hin. Durch das Wagenfenster schaute er hinaus in eine feuchte Flußniederung mit Wiesen aus sattem Grün. Dichte Nebelschwaden hingen darüber. Woran ihn das Bild nur erinnerte?
Plötzlich fiel ihm Ellen wieder ein, deren Skelett vielleicht noch immer irgendwo in der Grube lag.
Na ja, die Fossilüberlieferung war lückenhaft, das hatte er kürzlich sehr anschaulich erfahren. In den zwei Millionen Jahren, deren Zeugnisse in der Grube Messel die Zeiten überdauert hatten, waren dort sicher Tausende und Abertausende von Tieren gestorben, große und kleine, alte und junge, und es waren tonnenweise Blätter und andere Pflanzenteile in den See gefallen. Wenn sich alle diese Überreste als Fossilien erhalten hätten, müßte die Grube ja randvoll mit Knochen sein, geradezu überquellen vor Baumstämmen, Blattresten und Samen. Nein, nein, nein, er hatte bisher nicht allzuviel Glück gehabt in dieser Angelegenheit, und irgendwann mußte schließlich auch die hartnäckigste Pechsträhne einmal zu Ende gehen. Er hatte das Gefühl, daß mit dem heutigen Tag wieder bessere Zeiten für ihn anbrachen.
Wieder einmal, liebe Leserinnen und Leser, stehen Sie nach der Lektüre eines Romans allein mit der Frage da, was von dem Gelesenen nun Fiktion und was harte wissenschaftliche Fakten sind. Je nachdem, wieviel Sie schon mit dem Themenkomplex Evolution befaßt waren, wird Ihnen sicher die eine oder andere Frage durch den Kopf gehen. Daher möchte ich Sie auf einige Autoren verweisen, die auch mir bei der Arbeit an diesem Buch eine große und anregende Hilfe waren. Zum Glück gibt es gerade zu diesem Thema eine Fülle von kompetenten und hervorragend geschriebenen Sachbüchern, die für jedermann und jedefrau verständlich sind. Eines dürfen Sie dabei allerdings nicht erwarten: eine vollständige und umfassende Darstellung einer unumstößlichen und allgemein akzeptierten Theorie oder gar Wahrheit. Es herrscht zwar weitgehend Einigkeit über die Tatsache, daß es eine Evolution gegeben hat, aber damit haben sich die Gemeinsamkeiten in vielen Fällen auch schon erschöpft. Richard Dawkins und Stephen Jay Gould, um nur zwei Namen zu nennen, vertreten dabei sehr unterschiedliche Standpunkte. Wer glaubt, mit Darwin sei die Sache erledigt und das Thema ein alter Hut, täuscht sich gewaltig. Beim Thema Evolution, sicher eines der aufregendsten Gebiete der Wissenschaft, stehen sich wie in kaum einem anderen Bereich der Biologie bis heute gegensätzliche Vorstellungen und Schulen unversöhnlich gegenüber. Neue Disziplinen wie Systemtheorie und Chaosforschung beginnen sich einzumischen. Wie sooft steckt die Tücke im Detail, und es gibt nicht wenige, die glauben, wir seien heute genauso weit von einem umfassenden Verständnis der Geschichte des Lebens entfernt wie zu Darwins Zeiten.
Stellvertretend für viele, und ohne die unterschiedlichen Sichtweisen, die sie repräsentieren, zu bewerten, möchte ich an dieser Stelle die folgenden Namen nennen (die Reihenfolge ist alphabetisch, stellt keine Hitliste dar und ist schrecklich unvollständig): Richard Dawkins, Niles Eldredge, Stephen Jay Gould, Ernst Mayr, David M. Raup, Josef H. Reichholf, Rupert Riedl, Steven M. Stanley, Peter Douglas Ward und Jonathan Weiner. In den zahlreichen, auch in deutscher Sprache erschienenen Büchern dieser Autoren werden Sie abgesehen von mehr oder weniger exotischen Ideen einiger Einzelkämpfer fast alles finden, was heute zu diesem Thema zu sagen ist. Sie sind eine amüsante, manchmal auch traurige, aber immer spannende und fesselnde Lektüre.
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