»Augenblick, Brazil«, meinte Varnett. »Sie sagen, Sie wären dabeigewesen, als alle diese Leute lebten. Das muß Tausende von Jahren her sein. Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Das beantworte ich, wenn wir am Schacht sind«, erklärte Brazil. »Dort beantworte ich alle Fragen, nicht vorher. Wenn wir nicht vor Skander und seinen Begleitern dort sind, spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«
»Dann könnten sie an die Stelle der Markovier treten, die Gleichungen verändern?«fragte Varnett entsetzt. »Ich habe mir das auch einmal zugetraut, aber die Logik zeigte mir, wie sehr ich mich irrte. Erst als wir erfuhren, daß Skander es versuchen könnte, schickte man mich hin. Deshalb habe ich mich mit Ihnen zusammengetan, Brazil — Sie sagten in Zone, Sie wollten dasselbe tun. Unser geheimnisvoller Informant hat uns aufgefordert, mit Ihnen zusammenzugehen, wenn das möglich sein sollte.«
»Aber wie konnten Sie —«Brazil verstummte, dachte eine Weile nach und gluckste plötzlich. »Natürlich! Wie dumm ich gewesen bin! Ich wette, der Kerl hört alle Botschaften in Zone ab. Ich hatte vergessen, wie raffiniert er ist.«
»Wovon redest du?«fragte Wuju gereizt.
»Von dem dritten Beteiligten. Er wußte die ganze Zeit, wo Varnett und Skander waren. Er wollte nur wie üblich dabei sein, wenn es um die Entscheidung ging. Ich war seine Rückversicherung, für den Fall eines Mißerfolgs — der sich auch abzeichnete. Skander wurde entführt und konnte nicht mehr direkt überwacht werden. Jedenfalls ist es ihm gelungen, die anderen auf dem Weg zum Ziel aufzuhalten, damit wir alle ungefähr zur selben Zeit ankommen — wo wir in Empfang genommen werden.«
»Von wem redest du denn, zum Teufel?«fragte Wuju aufgebracht.
»Seht!«sagte Brazil. »Da ist Ghlmon, das letzte Hex vor dem Äquator. Seht ihr den ausgebrannten rötlichen Sand? Er zieht sich der Breite nach durch zwei Hexagons, ein halbes Hex hoch.«
» Von wem, will ich wissen!«fuhr ihn Wuju an.
»Nun«, sagte Brazil zögernd, »wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir ihm irgendwo in dieser sonnenversengten Wüste begegnen.«
»Gehen wir heute noch über die Grenze?«fragte Varnett.
»Ja. Es wird für uns alle hart werden, also gewöhnen wir uns am besten gleich daran. Wir gehen in der Nacht weiter, solange wir können, am Ufer entlang. Untertags kommen wir vielleicht nicht voran.«
Wuju sah ihn wütend an, aber Brazil beschleunigte seine Schritte und zwang die anderen, mitzulaufen. Nach wenigen Minuten überschritten sie die Grenze. Die Hitze überfiel sie wie eine ungeheure, belastende Decke. Binnen Minuten schleppten sie sich nur noch dahin. Schließlich mußten sie rasten. Die Dunkelheit brachte nur wenig Erleichterung.
Wuju setzte sich keuchend zu Brazil.
»Wer, Nathan?«stieß sie hervor.
»Die einzige Person, die genau wußte, daß ich Skander nachsetzen, daß ich zuerst zu dir nach Dillia gehen würde, war auch die einzige, die Varnett sagen konnte, wo und warum er mich finden konnte. Er war früher Pirat. Man konnte ihm nicht trauen, wenn er auch nur einen Schekel verdienen konnte, aber man konnte sich mit seinem Leben auf ihn verlassen, wenn es um keinen Gewinn ging. Das hatte ich eben vergessen — der Einsatz ist hier hoch; der Gewinn könnte größer sein, als sich das irgend jemand vorzustellen vermag. Er hat mir gesagt, ich könnte von allen Rassen Hilfe bekommen, aber keiner trauen — auch ihm nicht, wie sich herausgestellt hat. Er nahm allerdings an, ich würde ihn nicht für einen Gegner halten, weil wir gute Freunde gewesen waren und ich ihm allerhand schuldete. Er hat beinahe recht gehabt.«
Sie begriff endlich, und ihre Miene hellte sich auf.
»Ortega!« rief sie. »Dein Freund, dem wir in Zone begegnet sind!«
»Die sechsarmige Walroß-Schlange?«fragte Vardia. »Ortega steckt hinter allem?«
»Nicht hinter allem «, sagte eine Stimme hinter ihnen — eine knappe, ruhige Männerstimme, die Würde und Autorität verriet. »Aber er freut sich trotzdem, daß alles gut gegangen ist.«
Sie fuhren herum. In der fast völligen Dunkelheit konnten sie alle nicht gut sehen, aber das Wesen sah wahrhaftig aus wie ein Dinosaurier, ein Meter hoch, mit dunkelgrüner Haut und flachem Kopf. Es stand aufrecht auf großen Hinterbeinen, hatte eine gebogene Pfeife in der kurzen Hand. Außerdem schien es eine altmodische Smokingjacke zu tragen.
Das Wesen paffte an der Pfeife, und die Glut leuchtete in der Dunkelheit.
»Stört es euch, wenn ich meine Pfeife fertig rauche, bevor wir weiterziehen?«sagte es. »Wäre sonst schade drum.«
Die vier starrten das seltsame Wesen an. Brazil hatte nur den Gedanken, daß es zu ›Alice im Wunderland‹ gehörte.
»Serge Ortega schickt Sie?«fragte er.
Das Wesen nahm die Pfeife aus dem Mund und zeigte einen beleidigten Ausdruck.
»Sir, ich bin der Herzog von Orgondo. Das ist Ghlmon. Die Ulik haben hier nichts zu sagen. Sie sind lediglich unsere Nachbarn. Vor einigen Tagen erst hat Mr. Ortega sich in dieser Sache an uns gewandt, und wir machen uns natürlich große Sorgen. Das Interesse der Ulik liegt — nun, offen gesagt, dem unseren näher. Wir kennen sie und verstehen sie. Wir sind seit Jahrtausenden gut mit ihnen ausgekommen. Mit ihrer Hilfe konnten wir überleben, als sich hier die Umwelt veränderte und der Boden zu Sand wurde. Aber Sie alle — einschließlich Mr. Ortega — sind nur mit unserer Duldung hier, und wir lassen keine Verletzung der Souveränität zu.«
»Was sagt er?«fragte Vardia, und die anderen wirkten ebenso verwirrt. Brazil begriff zum erstenmal, daß sie nichts mehr verstanden. Die Dolmetschgeräte waren mit ihren früheren Körpern verschwunden.
»Verzeihung, Euer Gnaden«, sagte Brazil höflich. »Ich werde übersetzen müssen, weil meine Begleiter keine Dolmetscher haben.«
Die Echse sah die drei Menschen an.
»Hmmm… Höchst merkwürdig. Es hieß, ich hätte mit einer Dillianerin, einer Czillanerin und einem Creiten zu rechnen. Wir hörten, Sie wären eine Antilope, und das scheint als einziges richtig zu sein. Sie sind Mr. Brazil, nicht wahr?«
»Der bin ich. Das männliche Wesen ist Mr. Varnett, das weibliche mit Brüsten Wuju, und das unentwickelte Vardia. Wir mußten durch Ivrom. Das ist an sich schon eine Leistung, möchte ich meinen — unverwandelt hindurchzugelangen, wäre ein Wunder gewesen.«
»Gewiß. Wir hatten aber keine Zweifel, daß Sie durchkommen würden, obwohl der Teufel los war, als Sie drei Tage verschwanden. Wir haben alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um zu ermitteln, wer Sie festhielt.«
»Dann gehörte die Verzauberung nicht zu Ortegas Tricks?«fragte Brazil. »Er schien sehr sicher zu sein, daß wir durchkommen würden.«
»O nein, er rechnete damit, daß Sie steckenbleiben würden«, erwiderte der Herzog gelassen. »Aber wir von Ghlmon beherrschen die Künste besser als die schmutzigen Wilden in Ivrom. Es ging nur darum, Sie zu finden. Wir hatten die andere Gruppe bereits, so daß nichts beeinträchtigt worden ist, solange es auch dauerte.«
»Wie geht es nun weiter?«fragte Brazil ruhig.
»Ach, in dieser Nacht sind Sie natürlich meine Gäste«, erwiderte der Herzog liebenswürdig. »Morgen setzen wir Sie in einen Sandhai-Expreß und bringen Sie zur Hauptstadt Quodlikm, wo Sie mit Ortega und der anderen Gruppe zusammentreffen. Von da an führt Ortega Regie, aber wir werden natürlich aufpassen.«Der Herzog klopfte seine Pfeife aus. Der Inhalt roch wie Schießpulver. »Alles ist für Sie vorbereitet«, sagte er. »Können wir? Es ist nicht weit.«
»Haben wir die Wahl?«fragte Brazil.
Der kleine Dinosaurier wirkte wieder verletzt.
»Versteht sich. Sie können zurück über die Grenze oder ins Meer springen. Aber wenn Sie vorhaben, in Ghlmon zu bleiben, werden Sie tun, was wir wünschen.«
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