»Wenn wir sie nun einfach in der Kammer lassen?«fragte ein Botschafter. »Wird das die Ankunft von Neuen nicht unterbinden?«
»Eine Zeitlang«, räumte Ortega ein. »Aber man kann dort nicht leben. Wir können die Leute weder ernähren noch ihre Abfälle beseitigen.«
»Die ganze Bevölkerung eines Planeten, sagen Sie?«rief eine andere Stimme. »Guter Gott, Mann! Das könnten Milliarden sein! Ist Ihnen klar, wie sich das auf uns auswirken wird? Die Welt kann eine solche Bevölkerung nicht verkraften! Es wird ein Chaos geben, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich. Das könnte unseren Untergang bedeuten! Es muß etwas geschehen!«
Das Gemurmel zeigte an, daß viele dem Botschafter zustimmten.
»In der ganzen Geschichte der Schacht-Welt hat es so etwas nie gegeben«, sagte jemand. »Eine ganze Planetenbevölkerung! Das ist wie bei den Markoviern, aber der Planet ist bereits besiedelt. Viele unserer Ökosysteme sind labil und werden durch diesen Zustrom umkippen. Ich sage, wir haben keine Wahl. Um unserer eigenen Zukunft willen müssen wir diese Neuankömmlinge beim Eintreffen töten.«
Seine Schlußfolgerung schockierte viele. Es blieb kurze Zeit still. Ortega wußte jedoch, daß viele Botschafter den Schock überwinden und ebenfalls so denken würden.
»Das ist kein zufälliges Ereignis«, erklärte Ortega plötzlich. »Das ist Absicht. Sie wissen alle, daß es einen überlebenden markovischen Techniker gibt, Nathan Brazil. Er steckt dahinter. Aus einem bestimmten Grund, wie ich glaube.«
Es wurde totenstill. Man hörte ihm zu.
»Sie kennen alle die feststehende Regel, wenn Brazil heute auftauchen sollte. Sein Geisteszustand war schon beim letztenmal nicht der beste. Ich weiß es — ich war dabei. Selbst damals behauptete er schon, Gott zu sein, der eine Schöpfer des Universums samt Markoviern und allem. Wir wissen nicht, wie weitere tausend Jahre seinem Geist zugesetzt haben. Sollte er wieder in den Schacht der Seelen gelangen, schlägt er vielleicht einen anderen Kurs ein. Angenommen, sein Gottkomplex hat sich weiter entfaltet? Angenommen, das nächstemal will er wirklich den lieben Gott spielen? Sie wissen, daß die Angst nicht unbegründet ist. Sobald er sich im Schacht befindet, kann er tun, was er will. Es ist seit langem vorgesehen, ihn aufzuhalten und festzusetzen, sollte er eintreffen. Nun, meine Kollegen, ich glaube, der Augenblick ist gekommen. Brazil wird wieder auftauchen, diesmal absichtlich, und diese ganze Wirrnis ist nur eine Nebelwand. Er mag irrsinnig sein, aber dumm ist er nicht. Er weiß, daß wir auf ihn lauern. Wie besser sein Kommen tarnen und seine Erfolgsaussichten steigern, als auf diese Weise? Indem er einen Planeten vorfindet, der in großen Schwierigkeiten steckt und anfängt, zugrunde zu gehen. Er treibt die Bevölkerung hier durch. Er weiß, welches Chaos diese Übervölkerung hervorrufen wird. Und während wir den totalen Zusammenbruch aufzuhalten versuchen, wird er sich bemühen, an uns vorbeizuschleichen. Sie töten? Nein, ich glaube nicht, daß das die Lösung ist. Was würden wir mit den Leichen anfangen? Es ist besser, wir mühen uns mit dem Gedränge ab und schaffen die Neulinge vorerst in unsere Heimat-Sechsecke. Der Völkermord steht uns immer noch offen, solange wir auf den Verbleib der Neuzugänge achten. Im Augenblick wollen wir uns auf das ordentliche Durchschleusen konzentrieren. Schicken Sie aber gute Truppen, die das Schacht-Tor bewachen. Er muß hindurch. Sobald er hindurch ist, wird der Strom der Neuzugänge nachlassen, wette ich. Aber er darf nicht hindurch!«
Alle stimmten murmelnd zu.
»Ich werde tun, was ich kann«, fuhr Ortega fort. »Hoffentlich arbeiten alle mit. Wir werden Truppen mit geeigneten Waffen aufstellen. Wenn Brazil sich einzuschleichen versucht, erhalten sie Auftrag, ihn zu erschießen.«
Mavra Tschang erwachte. Es war ein wenig kühl, aber nicht unangenehm; ein friedlicher Wald, das Rauschen eines nahen Baches. Sie war erleichtert; es war ganz mühelos gewesen, durch den Schacht zu gehen.
Sie begann sich zu bewegen und erstarrte sofort. Sie drehte sich, um ihren Körper zu betrachten, dann begann sie zu fluchen.
Obie soll der Teufel holen! dachte sie zornig. Sie war immer noch eine Zentaurin! Er hatte es gewußt — deshalb hatte er darauf bestanden, daß sie die Rhone-Gestalt beibehielt. Er war bemüht gewesen, sie daran zu gewöhnen.
Sie ging zum Wasser hinunter. Es gab einen Wasserfall, klein, aber hübsch, der unten das Wasser aufwühlte, das sofort in einen großen Teich lief. Ein Stück flußabwärts gab es einen spiegelglatten See, und sie nutzte ihn sofort.
Sie war nicht dieselbe Zentaurin von einst, erkannte sie an ihrem Spiegelbild. Sie war größer, stärker, kraftvoller. Ihr Kopf und der Pferdeteil ihres Körpers waren mit gelblichem Haar bedeckt, blond und majestätisch. Ihr Leib, gedrungen und kraftvoll, war hellhäutig, ihr Gesicht hatte nichts von seinem orientalischen Schnitt behalten. Es war ein eindrucksvolles, attraktives Gesicht. Aus dem Spiegelbild starrten ihr blaue Augen entgegen.
Und doch war an dem Gesicht etwas seltsam Vertrautes, so, als erinnere es sie an jemanden, den sie vor langer Zeit gekannt hatte. Sie wußte nicht, wer das gewesen sein konnte; sie hatte nie jemanden mit so heller Haut und blauen Augen gesehen — es sei denn…
Eine Erinnerung regte sich, kämpfte sich drängend an die Oberfläche, eine so lange vergrabene Erinnerung, daß sie von selbst nie darauf gekommen wäre. Obie war am Werk gewesen; sein Griff ging über seinen eigenen Untergang hinaus. Ein großer, gutaussehender, muskulöser Mann mit dunkelblauen Augen, und eine kleinere, wunderschöne, schwarzhaarige Frau mit ganz heller Haut.
Ihre Eltern.
Sie wußte auf einmal und begriff, was der Schacht getan hatte. Mavra Tschang war das Produkt von Hinterhofchirurgen gewesen, Gestalt und Form so anders, daß niemand sie als Flüchtlingskind von einem zum Untergang verurteilten Planeten erkennen konnte.
So wie jetzt hätte sie ausgesehen, wenn sie normal hätte aufwachsen dürfen, das wahre Kind ihrer Eltern hätte sein können.
Trotz der Zentaurengestalt sah sie sich zum erstenmal in ihrem Leben so, wie sie als Mensch hätte aussehen können. Das erstaunte, ja, erschreckte sie sogar ein wenig. Sie fröstelte, nur zum Teil der Kühle wegen.
Sie schaute sich um. Hohe Berge in der Ferne, eigentlich gar nicht so weit weg. Sie befand sich praktisch schon im Gebirge.
Sie wußte, wo sie war, wo sie sein mußte. Sie war aus diesen Bergen schon einmal gekommen, von den fremden, stillen Gipfeln des Sechsecks mit dem Namen Gedemondas. Das hier war Dillia, das Land der friedlichen Zentauren, oberhalb des Sees — an der Spitze eines riesigen Gletschergewässers. Dort unten lag ein Dorf, das wußte sie. Voll freundlicher Zentauren, die tranken und rauchten und sich tolle Geschichten erzählten. Und dort oben, auf diesen Bergen, lebte die fremdartige Gebirglerrasse, deren Angehörige Kräfte und Sinne besaßen, die keiner verstand.
Sie schien Obies Absicht zu begreifen, aber sie war trotzdem allein in einem kalten Wald, ohne einen Mantel, um sich zu wärmen.
Also gut, Mavra, sagte sie sich. Hier bist du die Kriegerkönigin ohne Anhänger und Armee. Hier bist du, weit, weit von Glathriel und Ambreza entfernt, nackt und allein, und du sollst eine Revolution anfangen.
Also gut, Superfrau, sagte sie zu sich, jetzt bist du auf dich allein gestellt. Kein Brazil, kein Obie, niemand. Genauso, wie du es immer haben wolltest. Wie wirst du jetzt anstellen, was du zu tun hast?
Sie seufzte, drehte sich um und ging langsam auf das Dorf zu, von dem sie wußte, daß es da war. Zuerst warme Kleidung, zu essen und zu trinken, dann die Welt erobern, sagte sie zu sich.
Ja. Die Welt erobern. Mit welcher Armee denn? flüsterte etwas in ihr. Antwort wußte sie keine.
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