Es waren nur an die dreißig Sekunden, bis sie den Baum erreichte, aber sie empfand sie als Ewigkeit und fürchtete, es nicht zu schaffen. Sie wagte aber nicht hinunterzublicken.
Und dann war sie dort, auf den Ästen. Sie klammerte sich mit aller Kraft fest. Daß sie es geschafft hatte, wirkte nicht beruhigend, und sie ließ nicht los, bis das Zittern nachgelassen hatte.
Ihre Freundin war schon ins Bauminnere gehuscht, aber Yua hatte nicht die Kraft, ihr zu folgen.
Einige Minuten später kam die Frau zurück und betrachtete die immer noch zitternde Yua ein wenig belustigt.
»Ach, kommen Sie. Das Schlimmste haben Sie überstanden. Kommen Sie mit. Ich habe dem Sekretär erklärt, daß Sie ein Neuzugang sind, und man will Sie sofort sprechen. Beeilen Sie sich! Ich muß nach Hause. Es ist fast schon zu spät.«Und damit war sie fort.
Yua folgte ihr mit den Augen, bis sie verschwunden war. Ich weiß nicht einmal ihren Namen, dachte sie. Sie atmete ein paarmal tief ein und stieg in das Innere des Kuhbrau-Buschs.
Der Zugang war leicht zu finden, denn im Baumstamm gab es eine große Tür, verziert mit ihr unbekannten Symbolen. Yua öffnete zögernd und trat ein.
Das Innere war mit Öllampen beleuchtet; es war hell, behaglich und vollkommen ausgehöhlt. Für ein Gewächs, das äußerlich so gesund aussah, war es tief im Innern ein Nichts.
Hinter einem geschnitzten Holzschreibtisch saß ein großer Mann und schrieb, offenbar mit einem Gänsekiel. Er sah aus wie ein großes Eichhörnchen mit Entenschnabel und trug eine große Horn-Bifokal-Brille.
Er sah sie an.
»Sie sind der Neuzugang?«fragte er.
Sie nickte.
»Ich bin Yua, vormals von Olympus«, erwiderte sie.
Er lehnte sich zurück.
»Wir bekommen nicht viele Neuzugänge. Sie sind der erste, der mir begegnet. Es war sehr mühsam, die Handbücher durchzublättern, um zu sehen, was mit Ihnen geschehen soll.«Er wies auf ein großes Bücherregal, gefüllt mit eindrucksvollen, rot eingebundenen Büchern.
»Als erstes habe ich Sie indessen in Awbri willkommen zu heißen«, fuhr er fort. »Willkommen. Dann muß ich Ihnen diese kleine Rede halten.«
Sie seufzte und ließ die Schultern hängen. Es fiel schwer, diese Leute zu mögen.
»Erstens wissen wir nicht, wer oder was Sie gewesen sind, bevor Sie hierherkamen«, sagte er, »und das ist uns auch gleichgültig. Es ist nicht von Belang. Sie sind für immer auf der Schacht-Welt, und je eher Sie Ihr früheres Leben vergessen und sich an das neue gewöhnen, desto besser für Sie. Sie sind jetzt Awbrianerin. Auch das wird sich nicht ändern. Sie kommen von einer fremden Erscheinungsform, aber, wichtiger noch, von einer fremden Kultur. Sich an Ihren neuen Körper zu gewöhnen, wird relativ einfach sein; die kulturelle Anpassung ist jedoch sehr schwierig. Sie müssen die Kultur akzeptieren, die es hier schon seit Zehntausenden von Jahren vor Ihrer Geburt gibt. Sie werden anfangs keinen Gefallen daran finden, sie wird Ihnen unbequem und schwer zu akzeptieren sein. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß die hiesige Kultur nun einmal so ist, das Ergebnis von jahrtausendelanger Entwicklung, und daß sie uns entspricht. Wir werden tun, was wir können, um Ihnen bei dieser Anpassung zu helfen. Irgendwelche Fragen?«
»Hunderte«, gab sie zurück. »Aber — erzählen Sie mir von dieser Kultur. Ich habe einiges gesehen und anderes erraten, aber ich möchte alles wissen.«
»Sie werden das in den kommenden Tagen lernen«, sagte der Sekretär. »Nur ein paar Grundzüge. Wir sind aufgeteilt in Familiengruppen, und jede Gruppe besitzt einen Baum. Es ist ihr Baum, er gehört niemand anderem. Sie können einen anderen Baum auf dem Durchweg benutzen, aber zu keinem anderen Zweck. Fast alle Bäume sind hohl, wie dieser hier. Sie werden als Wohnungen verwendet. Wenn ein Baum sorgfältig gepflegt wird, kann er eine größere Bevölkerung ernähren, da das Regenwald-Klima hier das Wachstum enorm fördert. Für je fünftausend Personen gibt es einen Ortsrat, in dem die weisesten Senioren sitzen, das sind Männer. Das Alter wird hier verehrt. In Gaudoi, in der Nähe des Schacht-Tores, gibt es eine Wartungsverwaltung, die dafür sorgt, daß die Wege und Flugbahnen saubergehalten werden, die sich um den geringen Handel zwischen den einzelnen Orten kümmert und Streitigkeiten zwischen den Orten schlichtet.«
»Männer, sagten Sie. Dann haben hier also die Männer das Sagen?«
Der Sekretär öffnete überrascht den Schnabel. Er mußte kurz nachdenken.
»Kulturell wird die Verantwortung geteilt«, erwiderte er. »Außenerhaltung des Baumes, Kultivierung von Laub und Früchten und die sorgfältige Ernte sind die Verantwortung der Männer, die auch die Rolle des Schützers von Baum und Familie gegen alle Gefahren übernehmen. Sie vertreten die Familiengruppe ferner nach außen. Frauen tragen die Verantwortung für innere Wartung, einschließlich Säubern, Einrichten und Schmücken, sowie für Nahrungszubereitung und—«Verteilung und das Zurweltbringen und Aufziehen der Jungen.«
Yua empfand das nicht als sonderlich logisch, ging aber nicht weiter darauf ein.
»Und Berufe?«fragte sie. »Es ist doch gewiß nicht jeder Baum-Landwirt.«
»Es gibt einige«, erklärte der Sekretär. »Ich habe einen solchen Beruf. Es gibt schließlich viel überzählige Männer, die sich mit dem Familienleben nicht durchbringen können. Ärzte, Anwälte, Händler und Wartungspersonal, das wird alles gebraucht. Diese Bücher mußten von jemandem geschrieben und gedruckt und gebunden und verteilt werden.«
»Überzählige Männer?«sagte sie stirnrunzelnd. »Keine Frauen?«
Er räusperte sich ein wenig.
»Ich weiß, daß es Kulturen gibt, wo die Frauen eine andere Rolle einnehmen, aber nicht hier. Ich meine, schließlich kann ein Mann eine Reihe von Frauen, äh, bedienen, aber nicht andersherum. Das ist nur logisch, verstehen Sie.«
Sie sah das nicht ein. Es war mehr als ein kleiner Schlag.
»Welchen Platz nehme ich dann in einer solchen Kultur ein?«fragte sie argwöhnisch.
»Heute nacht werden Sie als Gast der Senioren hier schlafen«, erwiderte er lässig. »Morgen führen Sie ein Gespräch mit Ihnen, dann kommen sie zu einer Familie, die bereit ist, Sie aufzunehmen.«
Das gefiel ihr nicht.
»Und wenn ich zu dieser Familie oder irgendeiner anderen nicht will?«
Er lachte leise.
»Es bleibt keine andere Wahl. Was wollten Sie denn essen? Und wo? Wo wollten Sie nachts schlafen? Sehen Sie? Hier müssen Sie eine Familie und einen Baum haben, oder Sie verhungern und sterben. Aber keine Sorge. Es gibt Säfte und dergleichen, die Ihnen helfen, sich anzupassen, ihre frühere Kultur zu vergessen und sich einzufügen.«
Sie machte sich große Sorgen. Sie wollte nicht mit Drogen betäubt und einem Unterdrücker-Mann übergeben werden, für den sie nur Kinder zur Welt bringen durfte. Sie konnte es sich nicht leisten. Sie war nicht als Flüchtling auf die Schacht-Welt gekommen, sondern als Soldat. Sie hatte Aufgaben zu erfüllen, und diese Art von Leben gehörte nicht dazu, würde nie ein Teil ihrer Existenz werden.
Aber sie hatte durchaus keine klare Vorstellung davon, was sie hier tun sollte. Obie hatte erklärt, das werde sich ergeben, und sie werde wissen, wann die Zeit reif sei, aber wann sollte das sein? Wenn er sich nun geirrt hatte? Wenn Awbri nicht das war, was und wo sie sein sollte?
Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und schlimmer noch — sie hatte nur eine Nacht Zeit, sich etwas auszudenken.
Sie wußte nur, daß dies nicht war, was sie erwartet hatte, ganz und gar nicht…
»Sie kommen laufend durch«, sagte Ortega zu den Süd-Botschaftern und den Repräsentanten aus dem Norden. »Bisher schleusen wir ungefähr hundert in der Stunde durch, und ein Ende ist nicht abzusehen. Es werden sogar immer mehr. Wir haben schon einige von Ihnen um zusätzliches Personal bitten müssen, ja, sogar Armee-Einheiten, damit wir Ordnung halten können — aber das wird nicht helfen. Wir werden buchstäblich überflutet!«
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