Machte er zuviel Lärm, zöge er unweigerlich die Aufmerksamkeit der kämpfenden Titanen auf sich — und dann war es um ihn geschehen. Aber warum eigentlich nicht? Hatte er mit seinen zerrissenen Sehnen und dem gebrochenen Fuß in diesem Land der Ungeheuer überhaupt eine Überlebenschance?
Schlimmer als der Gedanke an den Schmerz war die Erinnerung daran, daß er schon auf dem ersten Teil des Weges, der ihn durch einen Selbstmord weitergeführt hatte, seinem angestrebten Ziel zum Greifen nahe gekommen war.
Die Chance, bis hierher zu kommen, hatte von Anfang an eins zu zehn Millionen gestanden. Es war ein reiner Glücksfall gewesen, der sich mit Sicherheit auch dann nicht wiederholen ließ, wenn er noch weitere zehntausendmal den Tod des Ertrinkens wählte. Er hatte sein Ziel gefunden und würde es bald wieder verlieren.
Die Sonne bewegte sich langsam hinter den Bergspitzen dahin. Dies war der Ort. Er war sicher gewesen, daß er existieren mußte; er hatte ihn mit dem ersten Versuch erreicht. Als Burtons Sehkraft schwächer wurde und der Schmerz verklang, wurde ihm bewußt, daß er sterben würde. Und damit hatte sein Beinbruch nichts zu tun. Er hatte starke, innere Verletzungen und schien innerlich zu verbluten.
Er versuchte sich noch einmal aufzurichten. Er wollte stehen, wenn auch nur auf einem Bein, den Giganten die Fäuste entgegenstrecken und sie verfluchen.
Er wollte mit einer Verwünschung auf den Lippen sterben.
Rote Morgennebel berührten sanft seine Lider.
Er stand auf und wußte, daß seine Wunden verheilt und sein Körper gesund sein mußte, obwohl es ihm schwerfiel, daran zu glauben. In der Nähe stand ein Gral, daneben lagen sechs sauber aufgeschichtete und zusammengefaltete Kleidungsstücke in verschiedenen Größen und Farben.
Vier Meter von ihm entfernt erhob sich ein anderer, ebenfalls nackter Mann aus dem Gras. Es lief Burton kalt über den Rücken. Das blonde Haar, das breitflächige Gesicht und die hellblauen Augen… Es war Hermann Göring.
Der Deutsche schien nicht weniger überrascht zu sein als Burton selbst. Mit schwerer Zunge, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, sagte er: »Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Es ist in der Tat etwas faul hier«, erwiderte Burton, obwohl auch er nicht mehr über die Erweckungszeremonie wußte als jeder andere Mensch am Fluß auch. Er hatte zwar selbst noch nie mit eigenen Augen die Materialisation eines Wiedererweckten gesehen, wußte allerdings durch die Erzählungen anderer darüber Bescheid. Normalerweise fand sie im Morgengrauen und immer in der unmittelbaren Nähe eines Gralsteins statt. Die Luft begann zu schimmern, und innerhalb eines Sekundenbruchteils tauchte der Körper eines nackten Mannes oder einer Frau aus dem Nichts auf und lag im Gras, während neben ihm ein Stapel Kleidungsstücke und der Gral materialisierten.
In einem Flußtal, dessen geschätzte Länge zwischen zwanzig und vierzig Millionen Kilometer betrug und von fünfunddreißig bis sechsunddreißig Milliarden Menschen bevölkert wurde, konnte es pro Tag durchaus eine Million Tote geben. Obwohl es Krankheiten (ausgenommen geistige) nicht gab und auch keine Statistiken existierten, war es nicht unmöglich, daß während der Myriaden von Kleinkriegen, durch Verbrechen, Selbstmorde oder Exekutionen — und Unfälle — alle vierundzwanzig Stunden eine derartige Zahl von Menschen das Leben verlor. Ständig materialisierten jene Leute, die die »kleine Wiedererweckung«, wie man das zweite oder dritte Erwachen bezeichnete, am eigenen Leibe erfuhren.
Aber Burton hatte niemals davon gehört, daß zwei Menschen, die am gleichen Ort gestorben waren, auch gemeinsam wieder erwachten. Die Auswahl ihrer neuen Umgebung war dem Zufall unterworfen — zumindest hatte er das bisher angenommen.
Natürlich war es nicht unmöglich, daß ein solches Phänomen einmal eintrat — aber auch hier standen die Chancen nur eins zu einer Million. Wenn dies gleich zweimal hintereinander geschah, konnte man nur von einem Wunder sprechen.
Und an Wunder glaubte Burton nicht. Alles war physikalisch erklärbar — vorausgesetzt, man verfügte über die zu einer Erklärung nötigen Fakten.
Aber gerade die besaß Burton nicht, also gab es für ihn auch keinen Grund, sich über dieses Zusammentreffen den Kopf zu zerbrechen. Die Lösung eines viel wichtigeren Problems erforderte jetzt all seine Konzentration. Was sollte er mit Göring anfangen?
Der Mann kannte ihn — er würde in der Lage sein, ihn an jeden Ethiker, der nach ihm suchte, zu verraten.
Er schaute sich rasch um und stellte fest, daß sich ihnen eine offensichtlich freundliche Gruppe von Männern und Frauen näherte. Er hatte gerade noch genügend Zeit, einige Worte mit dem Deutschen zu wechseln.
»Göring, ich kann entweder Sie oder mich selbst umbringen. Aber ich möchte beides nicht tun — im Moment jedenfalls nicht. Sie wissen, aus welchen Gründen Sie eine Gefahr für mich darstellen, und ich sollte einer verräterischen Hyäne wie Ihnen eigentlich nicht eine zweite Chance gewähren.
Aber irgend etwas hat sich an Ihnen verändert, das ich noch nicht verstehen kann…«
Göring, dessen Unverwüstlichkeit beinahe berüchtigt war, schien den Schock jetzt überwunden zu haben. Mit einem listigen Grinsen erwiderte er: »Das nimmt Sie ganz schön mit, was?«
Burton knurrte wütend, und Göring hob hastig die Hand und sagte: »Ich schwöre, daß ich niemanden über Ihre wahre Identität informieren werde! Sie können sich auf mich verlassen. Wir sind zwar keine Freunde, aber letztlich kennen wir einander und halten uns in fremder Umgebung auf. Es ist nicht schlecht, wenn man zumindest ein bekanntes Gesicht in der Nähe hat. Ich weiß, daß ich zu lange in der Einsamkeit gewesen bin. Ich dachte, ich würde verrückt werden. Das ist einer der Gründe, weswegen ich Traumgummi kaute.
Glauben Sie mir, ich habe nicht die Absicht, Ihnen irgendwie zu schaden.«
Burton glaubte ihm kein Wort. Aber vielleicht war es möglich, Göring für einen begrenzten Zeitraum über den Weg zu trauen. Der Mann suchte einen potentiellen Verbündeten, und das zumindest so lange, bis er die Leute, die in diesem Gebiet lebten, gut genug kannte, um zu wissen, was er sich ihnen gegenüber herausnehmen konnte. Und vielleicht hatte sich doch irgend etwas in ihm wirklich zum Besseren hin verändert.
Nein, sagte sich Burton. Nein. Du bist schon wieder auf dem besten Wege, dich hereinlegen zu lassen. Trotz deines verbalen Zynismus hast du den Leuten immer viel zu schnell vergeben, warst stets zu schnell bereit, dich selbst zu vergessen, um anderen eine zweite Chance zu geben. Benimm dich jetzt nicht schon wieder wie ein Trottel, Burton.
Drei Tage später war er sich über Göring noch immer im unklaren.
Burton hatte inzwischen die Identität eines gewissen Abdul Ibn Harun angenommen. Dieser Mann hatte im neunzehnten Jahrhundert in Kairo gelebt. Es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum sich Burton ausgerechnet diese Persönlichkeit zugelegt hatte: Er sprach ausgezeichnet Arabisch, und außerdem lieferte ihm diese angenommene Herkunft ein gutes Motiv, seinen Kopf mit einem Turban zu verhüllen, was einen weiteren Teil seiner Verkleidung darstellte. Göring hatte bisher noch kein verdächtiges Wort gegenüber anderen Leuten fallen lassen. Es wäre auch unmöglich gewesen, da er die meiste Zeit in Burtons Nähe verbrachte. Man stellte ihnen eine gemeinsame Hütte zur Verfügung, damit sie die lokalen Sitten kennen lernten, um später in den Probandenstatus aufzurücken. Ein Teil ihrer Ausbildung bestand aus militärischem Unterricht, der Burton, einem der besten Schwertkämpfer seiner Zeit, nicht schwerfiel. Nachdem er während einiger Prüfungen seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, machte man ihn zum Rekruten und versprach ihm, daß er, sobald er das Idiom gut genug beherrschte, zum Ausbilder aufrücken würde.
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