Hunter stand von seinem Platz auf und hielt sich am oberen Rand der Windschutzscheibe fest. Die Nebenstraße schien nicht beschädigt zu sein — jedenfalls nicht auf dem ersten sichtbaren Stück. Der Straßenbelag unterschied sich nicht von dem der Hauptstraße, auf der sie gekommen waren. Hunter überlegte einige Sekunden lang.
In dieser Pause erschütterte ein leiser Donner die Luft. Das Geräusch schien aus Südosten gekommen zu sein und pflanzte sich nach Nordwesten fort. Die Mitglieder der kleinen Gruppe hoben erstaunt die Köpfe, aber keiner von ihnen erriet, daß der leise Donner den letzten Ausläufer der Schockwelle darstellte, die erst jetzt anzeigte, daß der Isthmus von Nikaragua vom Meer überflutet und von Vulkaneruptionen zerstört worden war.
Hunter schüttelte den Kopf und sagte laut: »Nein, wir bleiben auf dem Monica Mountainway. Wir sind erst gestern hier gewesen und wissen , daß die Straße in Ordnung ist — keine Erdrutsche und so weiter. Eine neue Straße ist eine unbekannte Größe.«
»Wirklich?« meinte Hixon langsam. »Ich sehe nur, daß sie meinen Vorschlag ausgeführt haben, die Straße mit Felsen zu blockieren, damit unsere Verfolger nicht weiterkönnen.«
»Ganz richtig«, antwortete Hunter, weil ihm im Augenblick nichts anderes einfiel. Er zuckte mit den Schultern.
»Doddsy hat mich vorhin daran erinnert, daß wir an der Küste auch mit der Flut rechnen müssen«, fuhr Hixon fort.
»Wenn wir vor Sonnenuntergang auf die Küstenstraße kommen, ist alles in Ordnung«, versicherte Hunter ihm. »Die Ebbe setzt um fünf Uhr nachmittags ein. Natürlich unter der Voraussetzung, daß die Gezeiten den früheren Rhythmus einhalten — aber gestern war das jedenfalls noch nicht anders.«
»Ja ... wenn«, murmelte Hixon.
»An den Küsten müssen wir überall mit den Gezeiten rechnen«, antwortete Hunter aufgebracht. Er spürte, daß seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. »Los, wir müssen weiter«, fügte er laut hinzu. »Ich fahre jetzt voraus.«
Er setzte sich wieder hinter das Steuer und fuhr auf dem Monica Mountainway weiter. Nach einer Minute sagte Margo beruhigend: »Hixon fährt hinter uns her.«
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« erkundigte Hunter sich grinsend.
Barbara Katz hatte das kleine Teleskop unter dem Arm, als sie auf das Dach des Rolls-Royce kletterte, der mit einer Panne am Straßenrand stand. Sie wollte einen Blick über die niedrigen Mangrovenwälder werfen, die sich zu beiden Seiten der engen Landstraße erstreckten. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und strahlte die Wolken dunkelrot an, die der kühle Südostwind rasch über den Himmel trieb. Das Wetter hatte sich in der letzten halben Stunde völlig verändert.
Hester streckte den Kopf aus dem Fenster der Limousine und flüsterte: »Sie dürfen nicht dort oben herumtrampeln, Miß Barbara. Mister K. ist sehr schwach und muß endlich ruhig schlafen.«
Helen kauerte am Straßenrand und reichte Benjy Werkzeuge zu. Irgendwie hatte sich ein längeres Stück Draht am linken Hinterrad verfangen und war jetzt fest um die Achse gewickelt so daß eine Windung neben und über der nächsten lag. Benjy war erst darauf aufmerksam geworden, als das Hinterrad blockierte.
Der Chauffeur kam rückwärts unter dem Wagen hervor, blieb neben Helen in der Kniebeuge und schüttelte trübselig den Kopf. »Keine Ahnung, wie ich das verdammte Zeug loskriegen soll«, sagte er dann. »Ich habe einfach nicht die richtige Zange dafür. Und der Draht ist zu fest aufgewickelt — mindestens fünfzigmal.«
Barbara, die noch immer auf dem Dach der Limousine stand und sich große Mühe gab, so wenig Lärm wie möglich zu machen, während sie auf der glatten Oberfläche einen festen Halt suchte, wunderte sich ohnehin noch jetzt darüber, daß es Benjy gelungen war, den Rolls-Royce wieder in Gang zu bringen. Als das Wasser wieder gesunken war, hatte er fieberhaft an dem Motor des Wagens gearbeitet; eine halbe Stunde später hatte er ein Triumphgeheul ausgestoßen, als der Motor beim ersten Startversuch spuckte, stotterte und wieder gleichmäßig lief. Dann waren sie etwa vierzig Kilometer weiter nach Norden gefahren bevor diese Panne mit dem Draht eintrat.
Hester beugte sich aus dem Fenster und sah nach hinten. »Hoffentlich schaffst du es doch, Benjy«, meinte sie besorgt.
»Die Gegend hier ist noch flacher als sonst — und die kleinen Bäume verschwinden bestimmt sofort unter Wasser.«
»Unmöglich, Hes«, widersprach Benjy. Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls dauert es noch zwei oder drei Stunden.«
»He!« rief Barbara plötzlich aufgeregt. »Dort vorn an der Straße ... vielleicht eineinhalb Kilometer entfernt ... sehe ich ganz deutlich ... zwischen den Bäumen ... ein weißes Dreieck! Jetzt sind wir gerettet, glaube ich!«
»Und was soll uns ein weißes Dreieck helfen, Kind?« fragte Hester.
»Benjy«, rief Barbara, »können Sie eine Art Tragbahre für Mister K. herrichten — oder ihn einen Kilometer weit tragen?«
»Klar«, antwortete Benjy. »Warum auch nicht? Schließlich haben wir schon fast alles andere probiert.«
»Da ist es!« rief Barbara Katz laut, um den Wind zu übertönen. Der gleiche Blitz, der die dunklen Mangrovenzweige sichtbar werden ließ, die sich heftig in dem Sturm bewegten, der auch die Wolken über den Nachthimmel trieb, zeigte ein weißes Dreieck zwischen den Bäumen. Es war der Bug eines Segelbootes, das fast fünf Meter über ihnen zwischen zwei Bäumen hing.
Barbara nahm die schwere Thermosflasche in die linke Hand und die Taschenlampe in die rechte; dann schaltete sie die Lampe ein, als sie auf die Bäume unter dem Bug zuging. In dem Lichtstrahl war zu erkennen, daß der tiefe Kiel auf den unteren Ästen ruhte.
Benjy legte den alten KKK mit seiner Decke an den Straßenrand.
Hester und Helen setzten ihre Bündel ab und beugten sich besorgt über den Alten.
Benjy kam auf Barbara zu. Er keuchte vor Anstrengung.
»Richten Sie ... die Lampe auf den Rumpf«, stieß er hervor.
Sie drängten sich durch das Unterholz und leuchteten zuerst eine Seite des Kiels ab, dann folgte die andere. Barbara las den Namen des Bootes: Albatros .
»Anscheinend hat es kein Leck«, stellte Benjy kurze Zeit später fest. »Der Mast muß allerdings ziemlich kurz abgebrochen sein, sonst hätten wir ihn gesehen. Wahrscheinlich treibt das Boot mit der Flut nach oben. Vielleicht sitzt es zu fest, aber das glaube ich nicht. Ich klettere am besten nach oben und lasse dann das Seil herunter.« Er wies auf das Seil, das er um die Brust geschlungen trug.
Der Wind hatte sich in der Zwischenzeit etwas gelegt. Benjy hob die Hände an den Mund und rief nach oben: »Hallo! Jemand an Bord?«
Zwei Sekunden später frischte der Wind wieder auf. Benjy drehte sich zu Barbara um. »Ich habe eben ein Geräusch gehört, glaube ich«, sagte er. »Aber es war nicht nur der Wind.«
»Ich auch«, antwortete Barbara. Ihre Zähne klapperten — weil der Wind so kalt war, versuchte sie sich einzureden. Sie richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe senkrecht nach oben. »Oh, mein Gott!«
Über die Seite des Bootes ragte ein kleines weißes Gesicht hinaus.
»Ein kleines Kind!« rief Benjy.
»Ein Baby!« stellte Helen, die inzwischen herangekommen war, verblüfft fest. Sie winkte nach oben. »Bleib nur dort, Baby! Nicht herunterfallen! Wir kommen schon!«
Als Hunter den Thunderbird langsam den vorletzten Hügel hinuntersteuerte, der sie noch von der Küstenstraße trennte, war die grünliche Sonne über dem Wasserhorizont noch immer hell genug, um zu zeigen, daß der frühere Strand mindestens zwei Kilometer breiter geworden war, als die Mitglieder der Gruppe ihn in Erinnerung hatten. Hunter drehte sich kurz nach seinen Fahrgästen um und grinste fröhlich, ohne über ihre grünliche Gesichtsfarbe zu erschrecken, die von der Sonne hervorgerufen wurde. Er hätte Hixon am liebsten zugerufen: »Was habe ich Ihnen gesagt? Völlige Ebbe — oder nicht weit davon entfernt! Ich habe genau richtig vermutet!«
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