Moreys Stimme schwoll zu einem bebenden Crescendo an. »Wenn wir Glück haben und die Marken loskriegen, ohne erwischt zu werden, können wir nicht wagen, mehr als ein oder zwei Fälschungen zusammen mit einem Dutzend echter Marken zu benutzen. Das bedeutet also, daß du keinen Zwei-MonatsVorrat gekauft hast, sondern einen Zwei-Jahres-Vorrat. Und da diese Dinger, wie dir zweifellos entgangen ist, nur für einen gewissen Zeitraum gelten und das Verfallsdatum aufgedruckt ist, werden wir wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte verwenden können.«
Morey war aufgesprungen und stand nun drohend vor seiner Frau. »Was noch schlimmer ist - wir müssen jetzt sofort die Marken verkonsumieren, die du dem Kerl gegeben hast. Das bedeutet also, daß wir uns zwei Wochen lang mit doppelten Rationen abquälen müssen. Vom allerschlimmsten Aspekt habe ich bisher noch nicht gesprochen - gefälschte Marken sind verboten! Ich bin arm, Cherry. Ich lebe in den Slums, und das weiß ich auch. Ich muß noch schwer schuften, bevor ich so reich und respektiert und mächtig wie dein Vater sein werde - von dem ich übrigens bald nichts mehr hören möchte. Aber so arm ich auch bin, Cherry - bis jetzt habe ich noch nie gegen das Gesetz verstoßen!«
Cherrys Tränen waren versiegt. Als Morey alles gesagt hatte, was es zu sagen gab, blickte sie mit bleichem Gesicht und trockenen Augen zu ihm auf. Er hatte sich völlig verausgabt. Sekundenlang erwiderte er Cherrys Blick, dann wandte er sich wortlos ab und stapfte aus dem Haus.
Stundenlang streifte er umher, ohne zu wissen, wohin er ging.
Was ihn schließlich zur Besinnung brachte, war ein Gefühl, das er schon seit einem Dutzend Jahren nicht mehr emfunden hatte. Es waren nicht die schwindenden Spuren seines Katers, die seinen Magen so seltsam quälten. Ganz plötzlich wurde ihm bewußt, daß er hungrig war - richtig hungrig.
Morey blickte sich um. Er war in der Altstadt, meilenweit von zu Hause entfernt, umgeben von zahllosen Menschen niederer Klassen. Die Gasse, in der er sich befand, war der abscheulichste Slum, den er je gesehen hatte. Chinesische Pagoden standen neben Rokokoimitationen der Kapellen rund um Versailles. Schnörkel verunzierten sämtliche Fassaden, an jedem Haus funkelten grelle Lichtreklamen.
Er entdeckte ein grell aufgemachtes Eßlokal namens »Bülie's emsige Budgetbiene«, ging über die Straße darauf zu, drängte sich durch den dichten Verkehr. Es war ein miserabler Abklatsch von einem Restaurant, aber das war Morey egal. Er fand einen Platz unter einer Topfpalme, möglichst weit entfernt von den klingelnden Springbrunnen und dem Robot-Streichorchester, und bestellte, worauf er Lust hatte, ohne auf die Rationspreise zu achten. Als der Robotkellner lautlos davonglitt, gelangt Morey zu einer betrüblichen Erkenntnis - er hatte sein Rationierungsbuch nicht mitgenommen. Er stöhnte laut auf. Jetzt war es zu spät, um noch zu gehen, ohne einen Wirbel heraufzubeschwören.
Aber - so dachte er rebellisch - was machte eine unrationierte Mahlzeit mehr oder weniger schon für einen Unterschied?
Nach dem Essen fühlte er sich etwas besser. Er schob den letzten Bissen seiner Profiterole au Chocolat in den Mund, ohne das traditionelle Drittel der Portion auf dem Teller zurückzulassen, und bezahlte. Der Robotkassierer griff automatisch nach seinem Rationierungsbuch. Morey fühlte sich, zumindest für einen Augenblick, richtig großartig, als er sagte: »Keine Rationierungsmarken.«
Die Roboterkassierer sind nicht so konstruiert, daß sie Überraschung ausdrücken können, aber dieser versuchte es. Der Mann, der hinter Morey in der Schlange der Wartenden stand, hielt den Atem an und flüsterte deutlich hörbar: »Diese Shimmer!« Morey betrachtete es als Kompliment, und als er hinausging, hatte sich seine Laune erheblich gebessert.
Er fühlte sich sogar gut genug, um wieder nach Hause zu Cherry zu gehen. Morey dachte ein paar Minunten lang ernsthaft darüber nach. Nein, er würde ganz gewiß nicht den reuigen Sünder spielen, und Cherry war sicher nicht bereit, zuzugeben, daß sie einen Fehler gemacht hatte.
Außerdem würde sie jetzt schon schlafen, sagte sich Morey grimmig. Das war das Ärgerliche an Cherry - sie konnte immer sofort einschlafen. Sie verbrauchte nicht einmal ihre Schlafmt-telquoten, obwohl Morey schon öfter mit ihr darüber gesprochen hatte. Natürlich war er so höflich und taktvoll gewesen, wie es sich für einen frischgebackenen Ehemann gehörte, und deshalb hatte sie wohl gar nicht begriffen, daß er sich beklagte. Nun, damit war jetzt Schluß.
In männlicher Entschlossenheit marschierte er durch die Straßen der Altstadt.
»He, Joe, willst du was Schönes erleben?«
Morey warf einen ungläubigen Blick auf den Mann. »Sie schon wieder!« schrie er.
Der kleine Mann starrte ihn überrascht an. Dann schien er Morey zu erkennen. »Ach ja! Wir haben uns heute morgen schon mal gesehen, was?« Er schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Schade, daß Sie keine Geschäfte mit mir machen wollten! Ihre Frau war viel klüger. Natürlich hatte Sie mich ein bißchen verärgert, und deshalb mußte ich mit dem Preis raufgehen.«
»Sie Stinktier, Sie haben meine arme Frau übers Ohr gehauen! Wir beide werden jetzt mal in die nächste Station gehen und über die ganze Sache sprechen.«
Der kleine Mann kräuselte die Lippen. »So? Werden wir das?«
Morey nickte heftig. »Allerdings! Und ich werde Ihnen was sagen.«
Er brach ab, als sich eine große Hand auf seine Schulter legte.
Der gleichfalls große Mann, dem die Hand gehörte, sagte mit sanfter, kultivierter Stimme: »Belästigt dich der Gentleman, Sam?«
»Bisher nicht«, erwiderte der kleine Mann. »Aber vielleicht hat er das vor. Also bleib bitte hier.«
Morey schüttelte die Hand ab. »Glauben Sie nur ja nicht, daß Sie mich einschüchtern können! Wir gehen jetzt zur Polizei!«
Sam schüttelte verständnislos den Kopf. »Meinen Sie das ernst? Sie wollen sich wegen dieser Bagatelle tatsächlich an die Polizei wenden?«
»Genau.«
Sam seufzte betrübt. »Was hältst du davon, Walter? Wie kann er seine Frau Gemahlin nur so behandeln? So eine reizende Dame!«
»Wovon reden Sie eigentlich?« fragte Morey, den man an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte.
»Ich rede von Ihrer Frau«, erklärte Sam. »Ich bin zwar nicht verheiratet, aber wenn ich es wäre, würde ich ganz bestimmt nicht die Polizei verständigen, wenn meine Frau in eine kleine Gaunerei verwickelt wäre. Nein, Sir, ich würde versuchen, das selbst zu regeln. Soll ich Ihnen einen guten Rat geben? Sprechen Sie mal mit Ihrer Frau darüber. Machen Sie ihr klar, daß sie einen Fehler begangen hat.«
»Moment mal!« fiel ihm Morey ins Wort. »Würden Sie meine Frau da reinziehen?«
Der Mann breitete hilflos die Arme aus. »Also - ich würde das nicht tun, Kumpel. Sie hat sich ja selber reingeritten. An einem solchen Verbrechen sind immer zwei Leute beteiligt. Ich habe die Dinger verkauft. Das leugne ich nicht. Aber ich könnte sie nicht verkaufen, wenn ich nicht jemanden fände, der sie kauft. Klar?«
Morey starrte ihn finster an. Dann warf er dem großen Walter einen schnellen, abschätzenden Blick zu. Aber Walter war genauso groß, wie er ihn in Erinnerung hatte, also beschloß er, auf der Hut zu sein. Ein Gewaltakt kam nicht in Frage, die Polizei ebensowenig. Also blieb nur ein einziger, nicht sonderlich attraktiver Ausweg übrig - die Hoffnung, daß er dem Mann nicht mehr begegnen würde.
»Ich merke, daß Sie's begriffen haben«, sagte Sam. »Wie schön! Und nun kehre ich zu meiner ursprünglichen Frage zurück. Wollen Sie nicht was Schönes erleben, mein Freund? Sie sehen so aus, als ob Sie einiges auf dem Kasten hätten. Und Sie sehen so aus, als würden Sie sich für das Lokal interessieren, das ich zufallig kenne. Es ist ganz in der Nähe.«
Читать дальше