Tatendurstig verließ er das Badezimmer. Cherry saß bereits im Frühstückszimmer und starrte entsetzt auf das Tablett, das der Kammerdiener gebracht hatte. »Guten Morgen, Liebling«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Uff!«
Morey küßte sie und tätschelte ihre Hand. »Sehr gut!« jubelte er und blickte mit einem breiten Grinsen auf das Tablett. »Endlich was zu essen!«
»Ist das nicht ein bißchen viel für uns beide?«
»Für uns beide? Unsinn, meine Liebe, das esse ich alles allein.«
»O Morey!« rief Cherry atemlos, und der bewundernde Blick, den sie ihm schenkte, genügte vollauf, um ihn für ein Dutzend solcher Mahlzeiten zu entschädigen.
So würde es jetzt immer sein, dachte er, als er seine morgendliche Boxrunde mit einem Roboter als Sparringspartner beendet hatte und sein zweites Frühstück nahm - Tag für Tag, für lange, lange Zeit.
Aber Moreys Entschluß stand fest. Während er mit Räucherhering, Tee und Pfannkuchen kämpfte, besprach er seine Pläne mit Henry. »Du kannst gleich ein paar Termine für mich ausmachen«, sagte er mit vollem Mund. »Drei Gymnastikstunden pro Woche - aber such ein Institut mit Reduktionsgeräten aus. Die werde ich nämlich brauchen. Und dann mußt du mich bei meinem Schneider anmelden. Diese Anzüge trage ich jetzt schon seit Wochen. Laß mal sehen - Arzt, Zahnarzt - sag mal, Henry, hatte ich nicht einen Termin bei den Psychiatern?«
»O ja, Sir«, antwortete der Roboter höflich. »Heute vormittag. Ich habe den Chauffeur bereits verständigt und in Ihrem Büro angerufen.«
»Sehr gut. Dann kannst du dich ja um alles andere kümmern, Henry.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Henry, und sein Gesicht nahm den seltsam abwesenden Ausdruck eines Roboters an, der seinen GZR-Sender benutzte - ein Funkgerät für »Gespräche zwischen Robotern«, mit dessen Hilfe die Automaten Termine für ihre Herren vereinbarten.
Schweigend beendete Morey sein Frühstück, sonnte sich im Licht seiner Tugend und war mit sich und der Welt zufrieden. Es ist gar nicht so schwierig, ein braver, fleißiger Konsument zu werden, wenn man sich ein bißchen anstrengt, überlegte er. Nur die Unzufriedenen, die Taugenichtse und die Unfähigen schaffen es nicht, sich ihrer Umwelt anzupassen. Nun, dachte er mit vagem Mitgefühl, es muß auch unglückliche Leute geben. Ohne Eier zu zerschlagen, kann man kein Omelett machen. Und es ist nicht meine Aufgabe, mit wildem Blick herumzulaufen, schreiend die gesellschaftliche Ordnung anzuprangern, mich auf die Brust zu schlagen und Gerechtigkeit zu fordern. Nein, es ist meine Pflicht, für meine Frau und mein Heim zu sorgen.
Schade, daß er sich heute nicht sofort in die geplante KonsumOrgie stürzen konnte. Aber heute war der einzige Tag in der Woche, an dem er arbeiten mußte. Vier von den anderen sechs Tagen waren allein für den Konsum bestimmt. Und außerdem hatte er auch noch ein paar Gruppentherapie-Termine. Morey sagte sich, daß seine Analyse von heute an viel besser ausfallen würde - jetzt, wo er sein Problem erkannt hatte und bereit war, ihm zu Leibe zu rücken.
Sein neu erwachtes Selbstbewußtsein umgab ihn wie eine Gloriole, als er Cherry zum Abschied küßte. Sie war ganz verwirrt vor Entzücken über die Wandlung, die in ihm vorgegangen war, und begleitete ihn zum Wagen hinaus. Morey bemerkte den kleinen Mann mit dem großen Schlapphut nicht, der halb verborgen zwischen den Büschen stand.
»He, Kumpel!« Die Stimme des Mannes war nur ein Flüstern.
»Eh? Oh - was ist denn?«
Der Mann blickte sich verstohlen um. »Hören Sie mal, Freund!« stieß er hastig hervor. »Sie schauen wie ein intelligenter Mann aus, der ein bißchen Hilfe brauchen könnte. Die Zeiten sind hart
- Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Wollen Sie ein Geschäft mit Rationsmarken machen? Sechs für eine. Eine von Ihnen für sechs von mir - der beste Handel, den Sie in dieser Stadt abschließen können. Natürlich sind meine Marken keine echten McCoy's, aber sie werden ihren Zweck erfüllen, mein Freund.«
Morey blinzelte ihn an. »Nein!« Hastig stieß er den Mann beiseite. Jetzt sind auch schon Spekulanten am Werk, dachte er erbost. Dieses Elend und der endlose schmutzige Kampf mit den Rationen genügen noch nicht, um Cherry zu quälen. Nein, jetzt müssen auch noch Leute, die auf der Schattenseite des Gesetzes stehen, in der Nachbarschaft herumlungern. Es war natürlich nicht das erstemal, daß ein Rationsmarken-Gangster an ihn herantrat, aber zu seiner Vordertür hatte sich bisher noch keiner gewagt.
Als Morey in sein Auto stieg, überlegte er, ob er die Polizei rufen sollte. Aber wenn die Beamten hier ankamen, würde der Mann längst verschwunden sein. Außerdem war er ja ganz gut mit der Situation fertig geworden.
Sicher, es wäre ganz nett, sechs Marken für eine zu bekommen. Aber wenn man ihn erwischte, würde er nichts zu lachen haben.
»Guten Morgen, Mr. Frey«, klirrte die RobotSprechstundenhilfe, »würden Sie bitte gleich hineingehen?« Sie zeigte niit einem Stahlfinger auf die Tür mit der Aufschrift »Gruppentherapie«.
Als Morey nickte und der Aufforderung folgte, gelobte er sich, daß er eines Tages in der Lage sein würde, sich einen eigenen Analytiker leisten zu können. Natürlich milderte die Gruppentherapie den unaufhörlichen Streß des modernen Lebens, und ohne sie wäre er wahrscheinlich genauso schlimm dran wie der hysterische Mob bei den Rationalisierungsrevolten oder so gefahrlich und asozial wie die Fälscher.
Gleichzeitig aber mangelte es der Gruppentherapie ganz einfach an persönlicher Atmosphäre. Die privatesten Dinge wurden in aller Öffentlichkeit breitgetreten, und das war ebenso entnervend wie der Versuch, in einem Haus, wo man ständig von Robotern umgeben war, ein glückliches Eheleben zu führen.
Morey riß sich in kalter Panik zusammen. Wie war er denn auf diesen Gedanken gekommen? Er war tieferschüttert, als er den Raum betrat und die Gruppe begrüßte, der er zugeteilt war.
Da waren elf Leute - vier Freudianer, vier Reichianer, vier Junianer, ein Gestalter, ein Schocktherapist und der alte ziemlich stille Sullivanist. Auch die Mitglieder der größeren Gruppen hatten ihre individuellen Differenzen, was Technik und Überzeugungen betraf, aber obwohl er nun schon vier Jahre mit dieser Gruppe von Analytikern zusammenarbeitete, konnte er sie immer noch nicht auseinanderhalten. Aber er kannte wenigstens ihre Namen.
»Guten Morgen, Gentlemen«, sagter er. »Was steht denn heute auf dem Programm?«
»Guten Morgen«, sagte Semmelweiss mürrisch. »Heute sehen Sie zum erstenmal so aus, als hätten Sie ernsthafte Probleme -und ausgerechnet für heute ist das Psychodrama anberaumt. Dr. Fairless«, bat er, »könnten wir den Plan nicht abändern? Frey steht offensichtlich unter einer starken Anspannung. Das wäre genau der richtige Zeitpunkt, um nachzuhaken und zu sehen, was dabei herauskommt. Das Psychodrama könnten wir doch auch das nächstemal absolvieren.«
Fairless schüttelte seinen kahlen alten Schädel. »Tut mir leid, Doktor. Wenn es an mir läge - ich hätte nichts dagegen. Aber Sie kennen ja die Regeln.«
»Regeln, Regeln!« stieß Semmelweiss hervor. »Und was haben wir davon? Hier ist ein Patient in einem akuten Angstzustand, und wir ignorieren das, weil wir uns an die Regeln halten müssen. Können Sie das mit Ihrer Berufsehre vereinbaren? Wollen Sie den Patienten auf diese Weise heilen?«
»Wenn ich mir einen Einwand erlauben darf, Dr. Semmelweiss«, sagte der kleine Blaine frostig, »wir haben schon viele Patienten geheilt, ohne von den Regeln abzuweichen. Ich selbst zum Beispiel.«
»Sie selbst!« spottete Semmelweiss. »Sie selbst haben noch nie in Ihrem Leben allein einen Patienten behandelt. Wann werden Sie denn die Gruppe verlassen, Blaine?«
»Dr. Fairless!« rief Blaine wütend. »Ich glaube nicht, daß ich diesen persönlichen Angriff hinnehmen muß. Nur weil Semmelweiss älter ist und an einem Tag pro Woche ein paar Privatpatienten hat, denkt er.«
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